“Demokratie hat ein ernsthaftes Legitimitätsproblem” – Wahlpflicht & Wahlabsentismus: “Muss dann nicht ein Viertel der Sitze vier Jahre lang leer bleiben?”

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Wie sieht es eigentlich mit einer verbindlichen Wahlpflicht aus? Damit würde vermutlich die geringe Beteiligung bei sozial benachteiligten Gruppen schlagartig enden. Zwar besteht keine Wahlpflicht, aber die Rufe danach werden immer lauter.

“In der Bundesrepublik Deutschland besteht keine Wahlpflicht”

>>Die Bundeswahlleiterin<<

“In der Bundesrepublik Deutschland besteht keine Wahlpflicht. Anders ist dies beispielsweise in Belgien, Griechenland, Luxemburg und Zypern. Wählt eine wahlpflichtige Person ohne ausreichende Begründung nicht, kann dort eine Geldstrafe verhängt werden.”

Wahlpflicht: “Wählt eine wahlpflichtige Person ohne ausreichende Begründung nicht, kann dort eine Geldstrafe verhängt werden”

Tatsächlich trifft die Debatte um eine Wahlpflicht auf eine tiefgreifende Legitimitätskrise. Immer mehr Menschen zweifeln daran, dass das Parlament noch repräsentativ ist oder gar ihre Interessen vertritt.

„Reiche dominieren die Politik in Deutschland, der Rest hat das Nachsehen”

>>Lobby Control<<

„Reiche dominieren die Politik in Deutschland, der Rest hat das Nachsehen. Auf diese brisante Aussage lässt sich eine für den fünften Armuts- und Reichtumsbericht erstellte Studie zu ungleichem Einfluss zusammenfassen. … “In Deutschland beteiligen sich Bürgerinnen mit unterschiedlichem Einkommen nicht nur in sehr unterschiedlichem Maß an der Politik, sondern es besteht auch eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen. Damit droht ein sich verstärkender Teufelskreis aus ungleicher Beteiligung und ungleicher Responsivität, bei dem sozial benachteiligte Gruppen merken, dass ihre Anliegen kein Gehör finden und sich deshalb von der Politik abwenden – die sich in der Folge noch stärker an den Interessen der Bessergestellten orientiert.“ „Jedoch vertreten verschiedene Bevölkerungsgruppen ihre Interessen mit ungleichen Konflikt- und Organisationsressourcen. So können Partikularinteressen von Eliten und Unternehmen in modernen Demokratien einen übergroßen Einfluss gewinnen, mit der Folge einer zunehmenden Entpolitisierung und damit eines Legitimitätsverlustes.“

“Klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen”

Die Stimmen werden lauter, die behaupten, dass politische Entscheidungen immer stärker von den Partikularinteressen der Eliten geprägt sind. Besonders besorgniserregend ist dabei auch die geringe Beteiligung sozial benachteiligter Gruppen an Wahlen. Diese Menschen haben oft keine Lobby und fühlen sich von der Politik vernachlässigt. Ihre Anliegen finden kein Gehör und viele Entscheidungen werden zulasten der Armen getroffen. In der Tat wurde aus ähnlichen Überlegungen in anderen Ländern bereits eine verbindliche Wahlpflicht eingeführt.

“Wahlabsentismus wird zur wichtigsten politischen Strömung im Westen” – “Demokratie hat ein ernsthaftes Legitimitätsproblem”

>>Gegen Wahlen – Warum Abstimmen nicht demokratisch ist von David Van Reybrouck (Buch) <<

“Wahlabsentismus wird zur wichtigsten politischen Strömung im Westen, aber davon redet niemand. In Belgien liegt die Verweigerung naturgemäß etwas niedriger, da es eine Wahlpflicht gibt (in den letzten zehn Jahren bei durchschnittlich um die 10 %), aber sie nimmt zu: von 4,91 % im Jahre 1971 auf 10,78 % im Jahre 2010. Die von heftigem Medienrummel begleiteten belgischen Kommunalwahlen von 2012 erlebten sogar die geringste Wahlbeteiligung seit vierzig Jahren. In Städten wie Antwerpen und Ostende stieg die Zahl der Nichtwähler auf 15 %. Vor allem die Antwerpener Zahl ist erstaunlich: Der Kampf um die Bürgermeisterschärpe beherrschte monatelang die nationalen Medien. … Die Demokratie hat ein ernsthaftes Legitimitätsproblem, wenn die Bürger nicht mehr an ihrem wichtigsten Verfahren, dem Gang zur Wahlurne, teilnehmen wollen. Ist das Parlament dann überhaupt noch repräsentativ? Muss dann nicht ein Viertel der Sitze vier Jahre lang leer bleiben?”

“Wahlabsentismus” – “Muss dann nicht ein Viertel der Sitze vier Jahre lang leer bleiben?””

Jeder Mensch sollte eigentlich das Recht haben mitzuentscheiden und gehört zu werden – unabhängig von seinem sozialen Status. Aus solchen Überlegungen ist in einigen Staaten eine Wahlpflicht entstanden und die Nichtwahl wird meist mit einen Bußgeld belegt. Deshalb stellen 15% Nichtwähler eine beachtliche Größe dar.

“Wie wollen wir denn verhindern, dass Menschen, die eigentlich nicht wählen gehen wollen”

>>Endspurt von Wolfgang Bosbach (Buch) <<

“Wie wollen wir denn verhindern, dass Menschen, die eigentlich nicht wählen gehen wollen, aber dennoch gezwungenermaßen zum Wahllokal kommen, aus Protest gegen diese Wahlpflicht einen leeren oder ungültigen Stimmzettel in die Urne werfen? Bis zur Stunde denkt ja niemand daran, die Wahlberechtigten nicht nur zur Wahl, sondern auch zur Abgabe eines gültigen Stimmzettels zu zwingen – und wie sollte das in der Praxis auch funktionieren? Wohl deshalb gibt es nur ganz wenige Länder, die eine Wahlpflicht haben, und die sollten für uns kein Vorbild sein.”

“Ganz wenige Länder, die eine Wahlpflicht haben, und die sollten für uns kein Vorbild sein”

In der Deutschen Demokratischen Republik war das Wahlrecht zwar formal gegeben, jedoch gab es gewisse Besonderheiten, die es vom Verständnis einer demokratischen Wahl unterschied. Es hatte eine etwas andere Wahlpflicht gegeben. Dies führte dazu, dass viele Bürger ihre Stimme eher als Pflicht denn als freie Entscheidung empfanden.

DDR: “Bürger, die vorgaben, nicht laufen zu können, in ihre Personenwagen verfrachteten und kostenlos zum Wahllokal kutschierten”

>>Warte nicht auf bessre Zeiten! von Wolf Biermann (Buch) <<

“Wer nach dem Mittagessen bis zwei Uhr nicht seiner Wahlpflicht nachgekommen war, den sollte man sich vormerken, der gehörte nicht zu den Guten beim Aufbau des Sozialismus. Mein Freund, der private Fleischermeister aus der Linienstraße, hat es mir gebeichtet, und der private Glasermeister Ecke Schlegel-/Eichendorffstraße, der mir manche Bilderrahmen machte, hat sogar damit angegeben, dass er erst gegen drei wählt. Ab vier Uhr handelte es sich schon um eine unverhohlene Form der Sabotage. Da schlug die Stunde der massiven Rollkommandos freiwilliger Genossen im Kiez, die solche Bürger, die vorgaben, nicht laufen zu können, in ihre Personenwagen verfrachteten und kostenlos zum Wahllokal kutschierten. Auch die fliegenden Wahlurnen, extra eingerichtet für bettlägrige Untertanen, die auch ihr Ja für Wohlstand, Glück und Sozialismus abgeben wollten, waren inzwischen im Wahllokal eingetroffen. Punkt sechs Uhr war klar, wer zu den etwa 2,3 Prozent Gesindel oder zu den 1,4 Prozent Feinden des Weltfriedens gehörte.”

DDR: “Fliegenden Wahlurnen, extra eingerichtet für bettlägrige Untertanen, die auch ihr Ja für Wohlstand, Glück und Sozialismus abgeben”

Eigenheit war das Auftreten von Rollkommandos freiwilliger Genossen während des Wahlvorgangs. Diese Gruppen kontrollierten aktiv den Ablauf im Wahllokal und sorgten dafür, dass alles nach Plan verlief – natürlich im Sinne der Regierungspartei. Obwohl diese besonderen Aspekte bei Wahlen in der DDR kein Geheimnis waren, haben sie doch oft zu Unmut und Frustration bei den Wählern geführt.

DDR: “Ich’s eigentlich schon schizophren, da hinzugehen und mit dem Zettelfalten meine Zustimmung zu erklären”

>>Goodbye DDR von Guido Knopp (Buch) <<

“Als am 8. Juni 1986 die Wahl zur Volkskammer anstand, beschloss sie, ihre Stimme zu verweigern. Bei Wahlen in der DDR traten Einheitslisten der Nationalen Front an, die dann mit etwa 99 Prozent bestätigt wurden. Einfluss auf den Gang der Ereignisse hatten Wahlen nicht. »Nach den Erfahrungen, die ich bis dahin gemacht hatte, dass also Kritiken, Beschwerden oder Eingaben letztendlich nichts bringen, fand ich’s eigentlich schon schizophren, da hinzugehen und mit dem Zettelfalten meine Zustimmung zu erklären«, … Ich hatte gesehen, wie mit anderen Missliebigen verfahren wurde, die nicht hier bleiben wollten, die dann irgendwo an einer Grenze gefasst wurden; ich habe erfahren, dass Menschen schlagartig hinter Gittern gelandet sind.« Schon um 8.45 Uhr stand der Ortsbürgermeister vor der Tür und erklärte, sie müsse ihre Stimme abgeben, alle anderen aus dem Dorf hätten das schon getan. »Ich habe mich darauf berufen, dass wir keine Wahlpflicht haben.« Ein halbe Stunde später kam der Bürgermeister in Begleitung eines Vertreters vom Rat des Kreises, eine Stunde danach mit dem hauptamtlichen SED-Sekretär der Berufsschule, … . »Und da ist mir schon unverhohlen gedroht worden, dass das Konsequenzen haben würde.«

“Und da ist mir schon unverhohlen gedroht worden, dass das Konsequenzen haben würde”

Die etwas andere Wahlpflicht in der DDR verdeutlichte somit die begrenzte politische Partizipation, die in diesem System vorhanden war. Allgemein ruft der gegenwärtige Legitimitätsverlustes des Parlaments bei manchen Menschen offensichtlich Erinnerungen an vergangene Zeiten wach.