Der Schutz persönlicher Daten & die dunkle Schattenseite des Sozialstaats

Die Bürger werden nicht lediglich als potenzielle Sicherheitsgefahr wahrgenommen, sondern zugleich auch mit Fürsorge überwacht. Zahlreiche Institutionen sind dazu bestimmt, Menschen in besonderen Lebenssituationen und über verschiedene Lebensphasen hinweg zu unterstützen. Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung, Krankenversicherung sowie Sozialhilfe dienen dazu, Einzelpersonen auch in persönlichen Krisenlagen aufzufangen. Die Summe der jährlich über Sozialleistungen umverteilten Gelder übersteigt deutlich das Volumen des Bundeshaushalts.
Während bei der polizeilichen Datenverarbeitung das „Kainsmal der Überwachung“ förmlich sichtbar ist, wird der Sozialstaat kaum mit dem Begriff „Überwachung“ assoziiert. Dennoch verfügen die Träger von Sozialleistungen mit Abstand über die umfangreichsten personenbezogenen Datensammlungen und besitzen das meiste Wissen über die Bürger. Die von ihnen gespeicherten Informationen sind zudem besonders sensibel, da sie beispielsweise Auskünfte über den Gesundheitszustand, die Bedürftigkeit oder familiäre Verhältnisse enthalten.
Obwohl bislang kein zentraler Datenpool existiert, in dem alle Daten der Sozialversicherungen gemeinsam gespeichert werden, wachsen die Vernetzungen zwischen den einzelnen Datenbeständen stetig. Strukturelle Änderungen im sozialen Sicherungssystem führen zu immer umfassenderen Datenbanken. Da verschiedene Leistungssysteme miteinander verknüpft sind und unterschiedliche Sozialleistungen gegeneinander verrechnet werden müssen, findet ein zunehmender Abgleich der Daten statt. Dabei werden neben den Sozialleistungsträgern auch weitere staatliche Behörden wie Steuerämter eingebunden. Ziel des Datenabgleichs ist es, Fälle aufzudecken, in denen unrechtmäßig mehrfach Sozialleistungen bezogen werden. Diese umfassende Durchleuchtung verschiedener Datenbanken ist aus datenschutzrechtlicher Sicht bedeutsam, weil die Daten für andere Zwecke als ursprünglich erhoben verwendet werden und dies ohne konkreten Verdacht gegen die Betroffenen geschieht. Insofern ähnelt dieses Verfahren einer Rasterfahndung.
Ein besonders auffälliges Beispiel stellt der Abgleich von BAföG-Empfängerdaten mit steuerlichen Freistellungsaufträgen dar. Hierbei wurden die Angaben der Stipendiaten nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz mit Daten aus beim Bundesamt für Finanzen registrierten Freistellungsaufträgen verglichen. Ziel war es herauszufinden, wer bei der Antragstellung eigenes Einkommen oder Vermögen verschwiegen hatte. Infolgedessen wurden bei Tausenden von Empfängern die Bewilligungsbescheide widerrufen, Gelder zurückgefordert und Betrugsverfahren eingeleitet. Auch bei der Gewährung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II (ALG II) erfolgen solche Abgleiche mit anderen Datenbeständen, um eventuell verschwiegenes Einkommen oder Erspartes aufzudecken.
Mit Einführung des Arbeitslosengeldes II führten die umfangreichen Antragsformulare zu einer Welle von Protesten und Beschwerden. Es wurde nicht nur nach den persönlichen Lebensumständen und Vermögensverhältnissen der Antragsteller gefragt, sondern auch nach Informationen zu Mitbewohnern und Verwandten. Insbesondere sollte festgestellt werden, ob der Antragsteller in einer sogenannten „Bedarfsgemeinschaft“ lebt, über weiteres Einkommen oder Vermögen verfügt und ob Unterstützung durch Angehörige oder Mitbewohner möglich ist. Anfangs enthielten die Antragsformulare zahlreiche Fragen zu Angaben, die für die Leistungsberechnung eigentlich nicht notwendig waren.
Obwohl es den Datenschutzbeauftragten in langwierigen Verhandlungen gelang, eine Änderung der Fragebögen durchzusetzen, blieb das Grundproblem bestehen: ALG II ist – ebenso wie die Sozialhilfe – eine subsidiäre Leistung, das heißt sie wird abhängig von der individuellen Bedürftigkeit gewährt. Verfügt jemand über andere Einkommensquellen oder nennenswertes Vermögen, müssen diese zuerst aufgebraucht werden. Deshalb lässt sich eine individuelle Bedürftigkeitsprüfung kaum umgehen. Nur wer nachweist, keine anderen Mittel zur Sicherung seines Lebensunterhalts zu besitzen, erhält ALG II. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass manche Datenschutzprobleme eng mit der grundlegenden Konzeption der Leistungssysteme verbunden sind und sich nicht isoliert lösen lassen.
Als sich zeigte, dass die Kosten des ALG II weit höher ausfielen als erwartet, wurde nicht lange nach Ursachen gesucht; schnell waren Schuldige gefunden. Wolfgang Clement, Bundeswirtschaftsminister der rot-grünen Koalition, veröffentlichte eine Broschüre45 mit Fallbeispielen, die belegen sollten, dass Sozialleistungen in großem Umfang von unberechtigten Personen bezogen würden. Gleichzeitig wurde in der Öffentlichkeit vielfach „Missbrauch“ angeprangert. Dabei war bei vielen als „Missbrauch“ bezeichneten Fällen der Bezug sozialer Leistungen völlig legal – etwa wenn erwachsene Kinder aus dem Elternhaus auszogen und dadurch einen eigenen Anspruch auf Unterstützung erhielten.
Zweifellos kann man unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob bestimmte Wohnkonstellationen moralisch vertretbar sind, wenn sie lediglich dazu dienen sollen, eine Einstufung als „Bedarfsgemeinschaft“ mit gegenseitiger Unterstützungspflicht zu vermeiden. Andererseits darf nicht vergessen werden, dass solche Gestaltungen rechtlich zulässig sind und in anderen Bereichen ohne Weiteres akzeptiert werden – beispielsweise im Steuerrecht.
Auch Krankenkassen sowie Pflege- und Rentenversicherungen erfassen Daten eines Großteils der Bevölkerung. Viele Politiker reagieren auf den anhaltenden Kostendruck mit Forderungen nach verstärkter Kontrolle. Immer mehr Informationen zum Gesundheitszustand, zu erbrachten Pflege- und Behandlungsleistungen sowie zur individuellen Leistungsfähigkeit werden gespeichert. Bis 2003 übermittelten Ärzte und Zahnärzte ihre Abrechnungsunterlagen ausschließlich an kassenärztliche Vereinigungen; durch diese Arbeitsteilung wurde verhindert, dass Krankenkassen Einblick in sensible Gesundheitsdaten erhielten.
Mit einer Änderung des Abrechnungsverfahrens im ambulanten Bereich im Jahr 2003 erhielten die Krankenversicherungen jedoch Kenntnis über den Gesundheitszustand ihrer Versicherten, da ihnen Behandlungsaktivitäten von den Leistungserbringern – vor allem Ärzten – gemeldet werden. Der Bundestag stellte aufgrund datenschutzrechtlicher Kritik klar, dass diese Daten ausschließlich für Abrechnungs- und Prüfzwecke verwendet werden dürfen (strikte Zweckbindung). Ob diese gesetzlichen Einschränkungen angesichts steigender Kosten im Gesundheitswesen und dem damit verbundenen Reformdruck langfristig Bestand haben können, erscheint fraglich.
Über Krankenhausentlassungsberichte und Pflegedokumentationen erhalten die Kassen weitere äußerst sensible Informationen. Pflegedokumentationen enthalten neben Angaben zum Gesundheitszustand detaillierte Informationen zur Versorgungsbedürftigkeit der Pflegebedürftigen; jeder Handgriff und jede Hilfestellung wird genau festgehalten und gelangt – sofern an die Versicherungen übermittelt – in die Akten der Sachbearbeiter. Diese Daten werden gegebenenfalls in automatisierte Dokumentenverwaltungssysteme eingespeist. In der Regel geht es dabei nicht darum, wie den Betroffenen besser geholfen werden kann, sondern ausschließlich um die Kontrolle der Pflegedienste. Diese Verbreitung so intimer Informationen ist aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht hinnehmbar und muss unterbunden werden.
Das Bestreben der Versicherungen, diese höchstpersönlichen Daten auszuwerten, ist zwar nachvollziehbar – schließlich wollen sie das Gesundheitssystem finanzierbar halten und unrechtmäßige Leistungsinansprüche sowie Abrechnungen verhindern –, doch überschreiten die übermittelten Informationen oft das Maß dessen, was für Abrechnungszwecke erforderlich ist. Eine zentrale Aufgabe des Datenschutzes besteht darin, gerade jene Menschen vor einer übermäßigen Kontrolle und Überwachung ihrer intimsten Lebensbereiche zu schützen, die selbst kaum Möglichkeiten haben, sich dagegen zur Wehr zu setzen.