Existiert tatsächlich keine Alternative zur kalten Progression?

Die sogenannte kalte Progression stellt eine besonders heimtückische Form der Steuererhöhung dar, die meist unbemerkt und schleichend erfolgt. Man kann sie als eine „verdeckte“ und kontinuierlich wirkende Steigerung der Steuerlast bezeichnen, die sich im Laufe der Zeit aufbaut, ohne dass es dafür einer expliziten Gesetzesänderung bedarf. Diese Form der Steueranhebung ist deshalb so problematisch, weil sie potenziell gegen grundlegende Prinzipien der Verfassung verstoßen könnte. Im Kern widerspricht sie dem Grundsatz des deutschen Grundgesetzes, der besagt, dass nur jene Personen höhere Steuern zahlen sollten, deren wirtschaftliche Leistungsfähigkeit tatsächlich gestiegen ist. Das bedeutet, dass die Steuerbelastung immer am realen Einkommen gemessen werden sollte – nicht an einem inflationsbedingt gestiegenen Nominallohn.

Anforderungen an einen verfassungsgemäßen Steuertarif

Ein Steuersystem, das den Anforderungen der Verfassung gerecht werden will, muss daher entweder auf einem sogenannten „dynamischen Tarif“ basieren, der automatisch kontinuierlich an die Inflation angepasst wird, oder auf einem einheitlichen Steuersatz beruhen. Ein dynamischer Tarif sorgt dafür, dass die Steuerstufen und Freibeträge regelmäßig neu kalibriert werden, sodass reale Einkommenssteigerungen besteuert werden, nicht jedoch die durch Inflation verursachte Kaufkraftminderung. Alternativ ist ein einheitlicher Steuersatz eine andere praktikable Lösung, bei welcher keine Progression stattfindet und somit automatisch keine kalte Progression eintreten kann. Überraschenderweise ist diese Lösung häufiger anzutreffen als allgemein erwartet wird.

Länder mit einheitlichem Steuersatz und deren Umgang mit der kalten Progression

In mehreren Staaten, die mit einem einheitlichen Steuersatz arbeiten, wie etwa Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, der Slowakei oder Russland, ist das Problem der kalten Progression schlichtweg nicht existent. Dort steigt der Steuersatz nicht mit zunehmendem Einkommen an, weshalb eine schleichende Steuererhöhung über Inflationsanpassungen nicht eintreten kann. Allerdings müssen selbst in diesen Ländern die sogenannten Freigrenzen oder Grundfreibeträge regelmäßig an die Lebenshaltungskosten angepasst werden, damit die Steuerbelastung fair bleibt und nicht durch Inflation indirekt erhöht wird.

Progressives Steuersystem und Inflationsanpassung in anderen Ländern

In einigen anderen Ländern mit einem progressiven Steuertarif, wie Kanada, den USA, Belgien, Großbritannien und den Niederlanden, wird der Inflation direkt Rechnung getragen. Hier ist die Indexierung fester Bestandteil der Einkommensteuerformel. Das bedeutet, dass die Grenzen der einzelnen Steuerklassen sowie die Grundfreibeträge jährlich automatisch an die Inflationsrate angepasst werden. Diese Vorgehensweise verhindert, dass Steuerpflichtige ungewollt in höhere Steuerklassen rutschen, nur weil sich die Preise im Land erhöht haben. Dadurch wird der Effekt der kalten Progression wirkungsvoll umgangen.

Gesetzliche und freiwillige Anpassungen in der Schweiz, Frankreich und anderen Ländern

In der Schweiz und Frankreich hingegen gibt es keine direkte Integration der Inflation in die Steuerformel, allerdings existieren gesetzliche Verpflichtungen, die eine regelmäßige Anpassung der Steuerparameter an die Lebenshaltungskosten vorschreiben. Diese Maßnahmen gewährleisten eine gewisse Stabilität und Fairness im Steuersystem. In Ländern wie Irland, Norwegen, Dänemark und Zypern gibt es zwar keine gesetzliche Verpflichtung, die Einkommensteuerformel an die Inflation anzupassen. Dennoch haben diese Länder in den letzten Jahren auf freiwilliger Basis immer wieder Anpassungen vorgenommen, um die Steuerbelastung nicht ungebremst durch die kalte Progression steigen zu lassen.

Historische Entwicklung der kalten Progression in Deutschland

Ein Blick zurück auf die Entwicklung in Deutschland zeigt, wie stark sich die Situation verändert hat. Im Jahr 1958 wurde der progressive Steuertarif mit einem Grundfreibetrag eingeführt. Damals lag der Grenzsteuersatz bei 53 Prozent, wurde aber erst erreicht, wenn das Einkommen das zwanzigfache des damaligen Durchschnittseinkommens betrug. Heute hingegen erreicht ein Steuerpflichtiger diesen Grenzsteuersatz bereits, wenn das Einkommen nur etwa 1,3-mal so hoch ist wie das aktuelle Durchschnittseinkommen. Würde das Verhältnis von damals heute noch gelten, müssten Steuerzahler erst bei einem Jahreseinkommen von rund einer Million Euro mit dem Spitzensteuersatz belastet werden. Diese Verschiebung verdeutlicht, wie sehr die kalte Progression die Steuerlast auf breite Bevölkerungsschichten ausgeweitet hat.

Der Staat und die Ausweitung seiner Aufgaben

Es lässt sich feststellen, dass wir es mit einem Staat zu tun haben, dessen Aufgaben in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gewachsen sind. Politische Entscheidungsträger messen ihren Erfolg oft weniger an der effizienten Verwendung der vorhandenen Steuermittel, sondern eher an der Höhe der Wahlversprechen und der Ausdehnung des Budgets, das für ihre Aufgaben bereitgestellt wird. Die stetige Ausweitung der staatlichen Aufgaben wird dabei jedoch nicht immer offen kommuniziert, sondern häufig durch verschiedene Mechanismen verschleiert. Dazu zählen sowohl explizite als auch implizite Staatsverschuldung, also die Verlagerung von Ausgaben in die Zukunft, als auch die versteckte Steuererhöhung durch die kalte Progression.

Die Herausforderung, den Staat zu einer Ausgabendisziplin zu bewegen

Es ist unrealistisch zu erwarten, dass der Staat aus freien Stücken seine Steuerlast senkt oder seine Ausgaben einschränkt. Dieses Verhalten lässt sich mit dem Bild einer stark übergewichtigen Person vergleichen, die unter unkontrolliertem Essverhalten leidet, deren Magen sich vergrößert hat und deren Sättigungsgefühl verloren gegangen ist. Wenn man diese Person vor einen prall gefüllten Kühlschrank stellt und ihr sagt „Reiß dich gefälligst zusammen“, wird dies kaum zu einer Verhaltensänderung führen. Genauso wenig wird ein Staat, der an ständiger Ausweitung gewöhnt ist, von alleine Maß halten.

Die notwendige Zwangsmaßnahme zur Steuer- und Ausgabenbegrenzung

Was in einer solchen Situation erforderlich ist, gleicht einer Zwangsdiät – einer verpflichtenden Maßnahme, die den übermäßigen Konsum einschränkt und zu einem gesünderen Verhalten zwingt. Ohne einen solchen äußeren Druck wird der Staat seine Ausgaben kaum freiwillig begrenzen oder die Steuerbelastung reduzieren. Nur durch klare gesetzliche Vorgaben, Reformen und politische Entscheidungen, die auf Nachhaltigkeit und Effizienz abzielen, kann es gelingen, die schleichende Steuererhöhung durch die kalte Progression zu stoppen und die finanzielle Belastung für die Bürgerinnen und Bürger fair zu gestalten.