“Ich habe nichts zu verbergen” – Wie das fundamentale Grundrecht auf informelle Selbstbestimmung untergraben wird?

Immer wieder wird das weitverbreitete Argument gegen den Datenschutz verwendet, dass Personen, die nichts zu verbergen haben, auch keinen Datenschutz benötigen. Dennoch zeigt sich immer wieder, dass diejenigen, die gegen den Datenschutz argumentieren, eine völlig andere Sichtweise einnehmen, wenn es um ihre eigenen Daten geht. Der erste Bundesdatenschutzbeauftragte Hans Peter Bull setzte sich bereits mit diesem Argument auseinander:
»Wie dem auch sei – die Behauptung, man habe vor den Behörden oder den Mitmenschen nichts zu verheimlichen, widerspricht allen Erfahrungen des Alltagslebens. Da will doch jeder nur das über sich, seine Familie, seinen Beruf und seine Geschäfte verbreiten, was ihm vorteilhaft erscheint, und selbst derjenige, der sich gern selbst ironisiert oder aus öffentlicher Selbstkritik Befriedigung gewinnt, vermeidet es im Allgemeinen, sich ernsten Gefahren auszusetzen.
Wer wird schon ohne Not bekennen, gegen ein Strafgesetz verstoßen zu haben? Wer wird durch unnötiges Offenbaren wirtschaftlicher Bedrängnis seinen Kredit gefährden? Und höchstens ein törichter Angeber wird durch unbedachtes Reden den Eindruck erwecken, nachrichtendienstliche Beziehungen zu unterhalten, sodass die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden auf ihn fällt.«
Gegen dieses Argument sprechen auch jährlich tausende von Beschwerden von Bürgern bei den Datenschutzbehörden über fehlerhaften oder missbräuchlichen Umgang mit persönlichen Daten. Oftmals handelt es sich dabei um sensible medizinische Informationen oder um Daten, die unter dem besonderen Schutz des Sozialgeheimnisses stehen. Dies widerlegt praktisch die Annahme, dass man nichts zu befürchten habe, weil man ja nichts zu verbergen hat.
Die Aussage »Datenschutz ist Täterschutz« ist neben dem Satz »Ich habe nichts zu verbergen« eines der am häufigsten gegen den Datenschutz vorgebrachten Argumente. Wer sie nutzt, hat gute Chancen, in Diskussionen die Oberhand zu gewinnen. Ob im Kontext von Organisierter Kriminalität, Terrorismus, Sexualverbrechen oder Sozialleistungsbetrug: Der Datenschutz wird häufig dafür verantwortlich gemacht, dass Straftaten begangen werden oder nicht aufgeklärt werden können. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch fast immer, dass andere Faktoren entscheidend waren.
Als nach den Anschlägen vom 11. September 2001 der damalige Innenminister Otto Schily äußerte, überzogener Datenschutz habe zu diesen Attentaten beigetragen, erntete er Widerspruch von Spiros Simitis, dem früheren hessischen Landesbeauftragten für Datenschutz und Mentor des Datenschutzrechts:
»Erst hieß es, Datenschutz sei Täterschutz, jetzt sagt man, Datenschutz sei Terroristenschutz. Dies ist nicht nur falsch und Unsinn, sondern untergräbt eine der wichtigsten Voraussetzungen unserer demokratischen Verfassung. … Ich kenne nur Fälle, in denen der angeblich bei uns so übertriebene Datenschutz als Vorwand herhalten musste: Entweder weil die Ämter keine Lust hatten, rechtzeitig nach bestimmten Daten zu suchen. Oder weil sie unfähig, unorganisiert oder unzureichend ausgestattet waren, um auf Daten zugreifen zu können. Unsere Polizeigesetze und andere Vorschriften erlauben diesen Zugriff auf persönliche Daten seit Jahren; sie sind gerade deswegen weit formuliert. Ich frage mich jetzt: Warum machen die Behörden von ihren Möglichkeiten so wenig Gebrauch?«
Diese und weitere schlüssige Argumente verhindern nicht, dass immer wieder die Legende »Datenschutz = Täterschutz« neu belebt wird, wie im Fall »Stephanie«, der Anfang 2006 in Sachsen stattfand. Wochenlang hielt ein Mann in Dresden das 13-jährige Mädchen in seiner Wohnung gefangen und quälte sowie missbrauchte es. Der mittlerweile überführte Täter war bereits zuvor wegen einer Sexualstraftat verurteilt worden. Trotzdem wurde er von der Polizei nicht gefunden, was berechtigte Fragen zur Ursache aufwarf. Rasch wurde der Schuldige ausgemacht: Polizeivertreter führten das Versagen auf den Datenschutz zurück, der einen schnellen Austausch der Melderegisterdaten des inzwischen umgezogenen Täters verhindert habe.
Der Landesdatenschutzbeauftragte Andreas Schurig konnte diesen Vorwurf jedoch schnell entkräften. Er wies darauf hin, dass die Polizei in Sachsen jederzeit zu Ermittlungszwecken auf die Melderegisterdaten der Gemeinden zugreifen kann. In Dresden war dies sogar online möglich – also nach eigenem Ermessen ohne Mitspracherecht des Einwohnermeldeamtes. Schließlich gab auch der Landespolizeipräsident das Ergebnis der internen Untersuchung bekannt, das den Datenschutzbeauftragten bestätigte: Die Abfrage im Polizeicomputer unter dem Suchbegriff »Sexualstraftaten« hatte Fälle aus den Jahren vor 2002 nicht erfasst. Es handelte sich also um eine Panne, die die Ermittlungen erschwerte und verzögerte und keineswegs um »überzogenen Datenschutz«.
Die Folgen einer solch verkürzten Sichtweise sind in den USA sichtbar geworden, wo Namen und Adressen von Sexualstraftätern ins Internet gestellt werden. Es gibt keine Hinweise darauf, dass diese Internetveröffentlichungen Straftaten verhindern konnten. Andererseits sind mehrere Männer, die an den »Internet-Pranger« gestellt wurden, Mordanschlägen zum Opfer gefallen. Auch in Deutschland glauben manche Politiker offenbar, ihr Profil durch solche Forderungen schärfen zu können – Forderungen, die unseren verfassungsrechtlichen Grundsätzen widersprechen. Sie ignorieren dabei auch die Konsequenzen der öffentlichen Bloßstellung. Solche Methoden stehen nicht nur im Widerspruch zu einer freiheitlichen Gesellschafts- und Rechtsordnung; sie würden unser Leben auch unsicherer machen. Wenn Tätern die Möglichkeit zur Resozialisierung genommen wird, könnte sich die Gefahr durch sie erhöhen. Daher sollte man sich nicht auf diesen Holzweg zurück ins Mittelalter begeben.
Die Vorstellung hält sich hartnäckig, dass Datenschutz die Bekämpfung von Kriminalität behindert und somit zur erhöhten Gefährdung beiträgt. Umfragen zeigen beispielsweise eine verbreitete Meinung darüber an, dass Sexualmorde an Kindern in den letzten zehn Jahren deutlich zugenommen hätten. Ein Blick in die Kriminalstatistik widerlegt jedoch diese Einschätzung: Tatsächlich sind Sexualmorde an Kindern zurückgegangen, wie etwa in den von der Bundesregierung vorgelegten »Periodischen Sicherheitsberichten« nachzulesen ist. Zudem war die Kriminalität in den meisten anderen Deliktsbereichen in den letzten Jahren rückläufig; gleichzeitig stieg die Aufklärungsquote.
Im Herbst 2006 veröffentlichte die Bürgerrechtsorganisation Privacy International eine internationale Rangliste bezüglich des Datenschutzes. Deutschland belegt dabei noch den ersten Platz und wird gefolgt von Kanada. Schlechter schneiden hingegen die USA, Großbritannien und Russland ab. Sollte die These stimmen, dass Datenschutz die Kriminalitätsbekämpfung behindert, müsste das Ranking eigentlich umgekehrt sein. Wenn man einen Zusammenhang zwischen Datenschutz und Kriminalität herstellen möchte, spricht vieles dafür, dass in Ländern mit hohem Datenschutzniveau – wie Deutschland oder Kanada – die Kriminalität deutlich geringer ist als in Ländern mit laxeren oder gar nicht existierenden gesetzlichen Datenschutzvorschriften.
Diese These wird auch durch eine Anfang 2007 veröffentlichte Studie untermauert; das Gallup-Institut führte sie in Zusammenarbeit mit dem Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht im Auftrag der Europäischen Union durch. Im Rahmen dieser »European Crime and Safety Survey« kommen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass die Kriminalität in Großbritannien und Nordirland im europäischen Vergleich am höchsten ist. »Englands Hauptstadt« – so interpretierten es einige Medien – »ist mit der höchsten Kriminalitätsrate die gefährlichste Stadt Europas.« Angesichts der Tatsache, dass London wohl eine der am stärksten videoüberwachten europäischen Großstädte ist, muss der Erfolg solcher Maßnahmen – entgegen offizieller Regierungsbekundungen – doch etwas angezweifelt werden.