Gold und das „Barbarische Relikt“: Eine differenzierte Betrachtung der Aussagen

Die weit verbreitete Behauptung, Gold sei ein „barbarisches Relikt“, wird häufig John Maynard Keynes zugeschrieben. Doch eine genaue Betrachtung seiner Schriften zeigt, dass diese Formulierung so nie von ihm verwendet wurde. Tatsächlich schrieb Keynes im Jahr 1924 in seinem Werk „Ein Traktat über Währungsreform“: „In Wahrheit ist der Goldstandard bereits ein barbarisches Relikt.“ Damit bezog sich Keynes explizit auf das System des Goldstandards und nicht auf das Edelmetall Gold selbst. Diese Unterscheidung ist zentral, denn sie verdeutlicht, dass Keynes den Goldstandard als überholt ansah, das Gold an sich jedoch nicht vollständig ablehnte. Im historischen Kontext des Jahres 1924 war diese Einschätzung durchaus nachvollziehbar und spiegelte die damaligen wirtschaftlichen und politischen Realitäten wider.

Der Goldstandard im Wandel der Zeit: Keynes’ Haltung im historischen Kontext

Um die Haltung von Keynes zum Goldstandard und zu Gold besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die wirtschaftlichen Entwicklungen der damaligen Zeit. Der klassische Goldstandard, der seit etwa 1870 als Grundlage der globalen Währungsordnung diente, wurde zu Beginn des Ersten Weltkriegs von fast allen kriegsführenden Staaten aufgegeben. Die Regierungen nutzten ihr verbliebenes Gold, um Kriegsanstrengungen zu finanzieren, was zu einem abrupten Ende des bisherigen Systems führte. Auch das britische Schatzamt und die Bank von England folgten diesem Weg. Keynes, ein ausgewiesener Pragmatiker, erkannte die Notwendigkeit dieses Schrittes. Obwohl er ursprünglich ein Befürworter des Goldstandards war, sah er ein, dass unter den extremen Bedingungen des Krieges Flexibilität und pragmatisches Handeln Vorrang hatten.

Kredite, Krieg und Gold: Die Bedeutung des Goldstandards für Großbritannien

Keynes wies darauf hin, dass die Menge an verfügbarem Gold als Zahlungsmittel begrenzt sei, während Kreditvergabe nahezu unbegrenzt erfolgen könne. Für Großbritannien war es jedoch entscheidend, Londons Stellung als globales Finanzzentrum zu erhalten und die Kreditwürdigkeit des Landes zu stärken. Dank der Aufrechterhaltung des Vertrauens in das britische Finanzsystem gelang es, über das House of Morgan in New York beträchtliche Kredite zu erhalten. Diese Finanzierung war ein Schlüsselfaktor dafür, dass Großbritannien bis zum Eintritt der Vereinigten Staaten 1917 im Krieg bestehen konnte. Erst durch diese Kredite wurde es möglich, die Kriegsanstrengungen bis zum siegreichen Ende 1918 fortzusetzen. Für Deutschland und Österreich hingegen war eine vergleichbare Kreditaufnahme im Ausland nicht möglich, was erhebliche Auswirkungen auf den Kriegsverlauf hatte.

Rückkehr zum Goldstandard und die Folgen: Keynes als Warner vor Deflation

Nach dem Krieg, im Jahr 1925, stand Großbritannien unter der Führung von Finanzminister Winston Churchill vor der Entscheidung, erneut zum Goldstandard zurückzukehren – und zwar zur Vorkriegsparität. Keynes warnte eindringlich davor und erläuterte, dass eine Rückkehr zu alten Goldpreisen eine verheerende Deflation auslösen würde. Er plädierte dafür, den Goldpreis auf ein den neuen ökonomischen Realitäten angemessenes Niveau anzuheben. Churchills Entscheidung, Keynes’ fundierte Ratschläge zu ignorieren, führte zu einer schweren Deflation und zu einer wirtschaftlichen Depression in Großbritannien, die viele Jahre vor der Weltwirtschaftskrise einsetzte und das Land nachhaltig belastete.

Bretton Woods und die Vision einer neuen Weltwährung

Im Juli 1944, nur wenige Monate vor seinem Tod, arbeitete Keynes als britischer Delegationsleiter auf der Konferenz von Bretton Woods an einem neuen globalen Währungssystem. Seine innovative Idee war die Schaffung einer supranationalen Währung namens Bancor, die auf einem Korb aus Rohstoffen, darunter auch Gold, basieren sollte. Damit wollte Keynes einen flexiblen und stabilen Rahmen für den internationalen Handel schaffen. Obwohl sein Vorschlag zugunsten eines Dollar-Gold-Standards abgelehnt wurde – auf Druck der Vereinigten Staaten –, blieb die Grundidee erhalten und fand später in abgewandelter Form Eingang in die sogenannten Sonderziehungsrechte (Special Drawing Rights, SDR) des Internationalen Währungsfonds.

Die vielschichtige Sichtweise von Keynes auf Gold und Währungssysteme

Von Anfang bis Ende seiner Karriere entwickelte Keynes eine bemerkenswert differenzierte Haltung zum Thema Gold. Zu Beginn war er ein engagierter Befürworter des klassischen Goldstandards, der für Stabilität und Vertrauen in das internationale Finanzsystem stand. Im weiteren Verlauf seiner Laufbahn zeigte er sich als pragmatischer Berater, der die Nachteile eines anachronistischen Goldstandards erkannte und davor warnte, an überholten Paritäten festzuhalten. Gegen Ende seines Lebens schließlich trat er für eine neue Rolle des Goldes im Rahmen eines breiteren Rohstoffkorbs ein. Dabei ging es ihm darum, das internationale Währungssystem an die sich wandelnden wirtschaftlichen Gegebenheiten anzupassen, ohne die Bedeutung von Gold völlig zu verwerfen.

Keynes, das Gold und der Mythos vom „barbarischen Relikt“

Die Reduktion von Keynes’ Haltung auf das Schlagwort „barbarisches Relikt“ greift eindeutig zu kurz. Seine Position gegenüber Gold und Goldstandards war stets geprägt von Pragmatismus und einer differenzierten Analyse der jeweiligen wirtschaftlichen Situation. Wer also beim nächsten Mal die Phrase vom „barbarischen Relikt“ zitiert, sollte sich die historischen Hintergründe und die tatsächlichen Aussagen von Keynes vor Augen führen. Gold und der Goldstandard waren für Keynes Instrumente, deren Nutzen und Bedeutung sich im Laufe der Zeit veränderten – und deren Bewertung immer im Kontext der jeweiligen Herausforderungen erfolgen sollte. So wird deutlich, dass Keynes keineswegs ein pauschaler Gegner von Gold war, sondern vielmehr ein kluger Analytiker, der die Rolle von Gold im Wandel der Wirtschaftsgeschichte verstand und gestaltete.