Was war der ursprüngliche Kern der Diskussion um die Volkszählung?

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Volkszählungen existieren seit der Antike. Dabei ging es nicht stets ausschließlich um die Erfassung demografischer Daten, beispielsweise zur Steuererhebung. Mitunter dienten Volkszählungen auch der Vorbereitung repressiver Maßnahmen, wie etwa die Volkszählung unter Herodes zur Zeit der Geburt Christi oder die großdeutsche Volkszählung von 1938/39. Die Mehrheit der modernen Volkszählungen hingegen waren überwiegend statistische Erhebungen, die Staat und Wissenschaft verlässliche Daten liefern sollten.

Das Erhebungsprogramm der für das Jahr 1983 geplanten Volkszählung unterschied sich im Wesentlichen kaum von früheren Zählungen. Dennoch entfachte in der Öffentlichkeit eine intensive Debatte darüber, zu welchen Zwecken der Staat die Daten „wirklich“ sammeln wolle und wie er mit der großen Datenmenge umgehen würde. Teilweise gingen die Befürchtungen so weit, dass Statistikern unterstellt wurde, sie würden die erhobenen Informationen unmittelbar nach Abschluss der Zählung an den Verfassungsschutz weiterleiten, damit dieser eine lückenlose Erfassung mutmaßlicher Verfassungsfeinde vornehmen könne. Dieser umfassenden „Durchleuchtung“ widersetzten sich breite Bevölkerungsschichten entschieden.

Die damalige Aufregung ist heute nur schwer nachzuvollziehen, insbesondere wenn man die heutzutage vielfach größeren Datenmengen bedenkt, die staatliche und private Institutionen erfassen und verarbeiten. Diese Empörung lässt sich zudem nicht allein durch das Erhebungsprogramm erklären. Vielmehr wurde die Volkszählung von einer kritischen Öffentlichkeit als Fortsetzung einer „Datensammelwut“ betrachtet, wie sie der Staat in den siebziger Jahren im Zuge der Bekämpfung der „Rote-Armee-Fraktion“ (RAF) an den Tag gelegt hatte. Hinzu kam, dass sich die Medien Anfang der achtziger Jahre intensiv mit den Möglichkeiten automatisierter Datenerfassung und -auswertung auseinandersetzten. Die Datenverarbeitung erfolgte damals vorwiegend in großen Rechenzentren, die von staatlichen Stellen sowie Großunternehmen betrieben wurden. Die Bewegung gegen die Volkszählung, deren Ausmaß offensichtlich selbst ihre Initiatoren überraschte, war somit eher ein Ausdruck allgemeinen Unbehagens gegenüber Überwachungsgefahren denn eine wohlüberlegte oder gezielte Auseinandersetzung mit dem konkreten Vorhaben.

Die Debatte hatte nicht nur zur Folge, dass Datenschutzfragen in einem bislang unbekannten Maße ins öffentliche Bewusstsein rückten. Sie führte auch dazu, dass das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung traf, das sogenannte „Volkszählungsurteil“, das bis heute den rechtlichen Rahmen für den Umgang mit personenbezogenen Daten in Deutschland bestimmt.

In seinem Urteil vom 15. Dezember 1983 stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass Teile des Volkszählungsgesetzes verfassungswidrig seien. Besonders beanstandet wurden Regelungen, die es erlaubten, bei der Zählung erfasste Adressdaten an Meldebehörden weiterzugeben und diese zur Aktualisierung der Melderegister zu verwenden – dies widersprach dem Grundgesetz.

Besonders prägend waren die grundlegenden Ausführungen des Gerichts zum Datenschutz. Zum ersten Mal sprach das Bundesverfassungsgericht vom „Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung“:

„Unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung wird der Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten von dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz [der Menschenwürde] umfasst. Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.“

Dieses Urteil schlug wie ein Paukenschlag ein und hatte weitreichende Konsequenzen für den Umgang mit personenbezogenen Daten. Wenn es notwendig ist, den Einzelnen davor zu schützen, dass seine persönlichen Informationen unbegrenzt „erhoben, gespeichert, verwendet und weitergegeben“ werden dürfen, gilt dieser Verfassungsgrundsatz seitdem für jede staatliche Datenverarbeitung. Darüber hinaus wirkt sich dieser Grundsatz auch auf den Umgang von Unternehmen mit personenbezogenen Daten aus.

Bei der Verarbeitung müssen potenzielle Missbrauchsrisiken stets berücksichtigt werden. Dabei können selbst Daten, die isoliert betrachtet unbedeutend erscheinen, in anderen Zusammenhängen eine erhebliche Relevanz erlangen. Deshalb gibt es „unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung … insoweit kein belangloses Datum mehr“, so das Gericht. Damit widerlegte das Bundesverfassungsgericht die falsche Annahme, es gebe „freie“ Daten ohne Schutzbedarf, die uneingeschränkt genutzt werden könnten. Es wurde betont, dass selbst scheinbar unkritische Informationen in bestimmten Kontexten erheblichen Schaden für die Persönlichkeitsrechte verursachen können. So ist beispielsweise die Angabe des Geschlechts bei Transsexuellen besonders schützenswert; ebenso gilt dies für Adressen von adoptierten Kindern oder von Personen, deren Leben und körperliche Unversehrtheit durch Zeugenschutzprogramme geschützt werden.

Da Datenschutz ein Grundrecht darstellt, darf es nur durch ein Gesetz eingeschränkt werden, das bestimmte Anforderungen erfüllt: Die Datenerhebung und -verarbeitung muss einem überwiegenden Allgemeininteresse dienen; Voraussetzungen und Umfang müssen für Bürger nachvollziehbar geregelt sein; schließlich ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Das bedeutet konkret: Es dürfen nur solche Daten erhoben werden, die zur Erfüllung einer fachlichen Aufgabe unbedingt erforderlich sind – eine bloße Nützlichkeit („nice to have“) reicht nicht aus. Zudem muss die weitere Verwendung grundsätzlich auf den ursprünglichen Zweck beschränkt bleiben.

In zahlreichen weiteren Urteilen hat das Bundesverfassungsgericht das anfangs umstrittene Recht auf informationelle Selbstbestimmung bestätigt sowie weiterentwickelt und präzisiert. Auf einige dieser Entscheidungen – beispielsweise zum „Großen Lauschangriff“ – wird später noch eingegangen werden müssen.

Das Volkszählungsurteil hat den Datenschutz zwar nachhaltig gestärkt, jedoch nicht ausschließlich positive Auswirkungen gehabt. Aufgrund des Gesetzesvorbehalts bei jeder staatlichen Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten war es folgerichtig, dass in vielen Bereichen gesetzgeberische Maßnahmen ergriffen wurden, um den Umgang mit solchen Daten zu regeln. Dabei lag das Augenmerk des Gesetzgebers jedoch häufig weniger darauf, die Verarbeitung einzuschränken.

Vielmehr stand oftmals die rechtliche Absicherung der behördlichen Praxis oder sogar die Schaffung zusätzlicher Befugnisse zur Datenverarbeitung im Vordergrund. In dieser Hinsicht waren die Konsequenzen des Volkszählungsurteils eher enttäuschend. Zahlreiche Verantwortliche in Verwaltung und Politik scheinen die zentrale Botschaft des Bundesverfassungsgerichts missverstanden zu haben, welche darin besteht, den Menschen vor einer übermäßigen Verarbeitung ihrer Daten und vor unangemessener Überwachung zu schützen.

In der Folge nahm der Umfang gesetzlicher „Datenschutzregeln“ geradezu explosionsartig zu. Anstatt die Behörden zu einer kritischen Reflexion ihrer Vorgehensweisen zu bewegen, wurde bei diesen eine erhebliche kreative Energie freigesetzt, um Gesetze so zu gestalten, dass sie die bestehende Praxis rechtlich absichern konnten. Kritiker dieser Entwicklung sprechen daher berechtigterweise von einer „Verrechtlichungsfalle“ im Datenschutz und sehen teilweise rückblickend sogar einen „Pyrrhussieg des Datenschutzes“ (Simitis).

Die formale Verrechtlichung des Datenschutzes hat zur Folge, dass heute kaum jemand die genaue Anzahl der datenschutzrechtlichen Vorschriften auf Bundes- und Länderebene kennt, die seitdem in Gesetzen und Verordnungen verankert wurden. Zudem führt diese Verrechtlichung dazu, dass bei der Umsetzung der Gesetze selten nach Sinnhaftigkeit, Zweckmäßigkeit und Angemessenheit der Datenverarbeitung gefragt wird. Stattdessen konzentrieren sich die Verantwortlichen darauf, eine „passende“ Rechtsnorm zu finden, was meist gelingt. Bleibt diese Suche trotz aller Bemühungen erfolglos, zeigen sich grundsätzlich zwei Reaktionsmuster: Entweder wird eine solche Norm neu geschaffen („Hier ist der Gesetzgeber gefragt“) oder man klagt: „Der Datenschutz verhindert wieder einmal…“, ohne dabei zu hinterfragen, ob das angestrebte Ziel nicht auch auf anderem Wege – etwa mit weniger oder ganz ohne Daten – erreicht werden könnte.

Auch für die Betroffenen bringt diese Flut an Regelungen erhebliche Probleme mit sich. Sie verlieren den Überblick darüber, in welchem Gesetz ihre datenschutzrechtlichen Rechte und Pflichten geregelt sind. Wenn sie schließlich doch eine passende Spezialvorschrift finden, ist diese für Laien häufig unverständlich in Wortlaut und Inhalt. Dies führt letztlich dazu, dass gerade diejenigen Personen, deren Schutz eigentlich im Mittelpunkt steht, ihre Rechte nur unzureichend wahrnehmen können.

Das Volkszählungsurteil verhinderte nicht nur die Durchführung der Volkszählung selbst, sondern hatte auch eine politisch befriedende Wirkung: Indem das höchste deutsche Gericht den Kritikern der Volkszählung Recht gab, schwächte es zugleich viele ihrer Argumente. Ein Überwachungsstaat hätte sich nämlich nicht allein durch ein Gerichtsurteil aufhalten lassen. Ein totalitäres Regime hätte Mittel gefunden, ein als zentral angesehenes Projekt wie die Volkszählung mit Gewalt durchzusetzen. Das Urteil zeigte somit auf, dass die Bundesrepublik Deutschland kein totalitärer Überwachungsstaat ist, sondern ein demokratisches Land, in dem Gerichte den Schutz der Bürgerrechte gewährleisten und gelegentlich auch den Gesetzgeber korrigieren. Betrachtet man zudem, dass viele Aktivisten der Anti-Volkszählungs-Bewegung aus dem staatskritischen Umfeld der ehemaligen „68er“-Bewegung stammten, lässt sich die Bedeutung dieser Entscheidung für deren Integration in die bürgerliche Gesellschaft der Bundesrepublik kaum überschätzen.

Trotz der beschriebenen Tendenz, das Volkszählungsurteil hauptsächlich formal im Sinne einer stärkeren Verrechtlichung der Datenverarbeitung umzusetzen, bewirkte es zumindest zeitweise ein Umdenken in Führungsebenen von Behörden. So wurde Mitte der 1980er Jahre vielerorts das bis dahin vorherrschende Denken infrage gestellt, wonach immer mehr Daten automatisch zu besseren Ergebnissen führten. Infolgedessen wurden zahlreiche Datensammlungen bei Polizei- und Verfassungsschutzbehörden überprüft und zum Teil erheblich reduziert.

In den letzten Jahren ist dieses Bewusstsein jedoch größtenteils wieder verloren gegangen. Insbesondere nach dem 11. September 2001 scheint sich ein altes Prinzip erneut durchgesetzt zu haben – jenes Prinzip, das Erich Mielke, einstiger Minister für Staatssicherheit der DDR, einst formulierte: „Um sicher zu sein, muss man alles wissen.“