Welche Merkmale kennzeichnen den Unterschied zwischen Privatheit und öffentlichem Raum?

Die private und die öffentliche Sphäre sind seit Jahrhunderten eng miteinander verflochten: Die Privatsphäre stellt den Raum für individuellen Rückzug dar und ist gleichzeitig eine unverzichtbare Grundlage für eine freie Meinungsbildung. Aus diesem Grund haben totalitäre Regime stets versucht, sowohl die öffentliche als auch die private Sphäre vollständig zu kontrollieren. Ohne einen geschützten Bereich, in dem man unbeobachtet und unzensiert seine Erfahrungen und Überzeugungen reflektieren und sich mit anderen austauschen kann, ist eine freie Öffentlichkeit nicht denkbar. Freie Rede, freie Information und freie Meinungsäußerung würden ohne ein fest verankertes Recht auf Privatheit verkümmern.
Die sich verändernden Auffassungen über das Verhältnis von öffentlicher und privater Sphäre lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Bereits in den griechischen Stadtstaaten entstanden zwei klar voneinander getrennte Lebensbereiche: eine private und eine öffentliche Ordnung. Die private Sphäre des Hauses (»oikos«) stand dabei im Gegensatz zur öffentlich-politischen Ebene des Marktplatzes (»agora«). Diese Zweiteilung setzte sich bei den Römern fort und hat bis heute Bestand.
Auch der Begriff der Privatheit stammt aus dem Lateinischen; ausgehend vom Verb »privare« (berauben) bezeichnete »privatus« den Bürger, der sich nicht politisch engagierte und somit der öffentlichen Beobachtung entzogen, also »beraubt« war. Aus dieser Bedeutung lässt sich ableiten, dass private und öffentliche Sphäre zwar getrennte Bereiche darstellten, jedoch in Beziehung zueinander standen. Erst durch politische, also öffentliche Betätigung wurde das Individuum zum Bürger. Das deutsche Wort »privat« wird seit dem 16. Jahrhundert verwendet und beschreibt Sachverhalte oder Personen, die für sich allein stehen beziehungsweise unabhängig sind.
Die heutige Bedeutung der Privatsphäre sowie ihr Gegenstück, die moderne Öffentlichkeit, sind Produkte der bürgerlichen Gesellschaft. In den meisten vorindustriellen Gesellschaften existierte kein Verständnis von Individualität im heutigen Sinne; vielmehr dominierten ererbte und rollenbezogene Zuordnungen. Mit dem Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft verschwanden diese klassen- oder rollenspezifischen Unterschiede nicht vollständig, doch ihre Ausdrucksformen veränderten sich. Das von der Französischen Revolution 1789 verkündete Gleichheitsideal bedeutete zugleich den Abschied von der Vorstellung einer gottgegebenen, öffentlich inszenierten »ewigen« Rollenverteilung. Besonders im Bürgertum wuchs das Bedürfnis, individuelle Verhältnisse und Vorlieben der öffentlichen Wahrnehmung zu entziehen – vor allem um geschäftliche Entscheidungen ungestört von Einblicken Dritter vorbereiten zu können. Hier zeigt sich eine zentrale Funktion von Privatheit: In einer Gesellschaft, die von individuellen Entscheidungen geprägt ist, muss die Privatsphäre vor fremden Einblicken geschützt werden, damit individuelles öffentliches Handeln überhaupt möglich ist.
Eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung der modernen Öffentlichkeit spielte die Presse. Informationen verbreiteten sich durch Zeitungen wesentlich schneller, weiter und weniger kontrollierbar als zuvor durch mündliche Überlieferung oder direkte Briefe. Dadurch erweiterte sich auch die Reichweite von Öffentlichkeit. Sie wurde sowohl sozial als auch geografisch entgrenzt, da Informationen einem immer größeren Publikum zugänglich wurden – über lokale oder regionale Grenzen hinaus. Somit konnte der Einzelne die Verbreitung von Informationen über seine Person nicht mehr kontrollieren.
Das autonome Individuum als Ideal der bürgerlichen Gesellschaft benötigte gerade angesichts verbesserter Kommunikationsmittel einen privaten Raum, in dem es sich unbeobachtet bewegen sowie informieren, kommunizieren und Entscheidungen treffen konnte, ohne gegenüber der Öffentlichkeit Rechenschaft ablegen zu müssen. Je »öffentlicher« die Öffentlichkeit wurde – also je größer der Radius veröffentlichter Informationen –, desto dringlicher wurde der Schutz der Privatheit.
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben Veränderungen in den Massenmedien das Verhältnis zwischen privater und öffentlicher Sphäre erheblich verschoben und die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Verhalten zunehmend verwischt. Indem Medien bevorzugt über persönliche Angelegenheiten berichten, führen sie zu einem Verlust an Privatheit. Dies betrifft insbesondere jene Personen, die ohnehin stark im Fokus der Öffentlichkeit stehen – Prominente aus Politik, Unterhaltung und Sport. Viele nutzen diese neuen Möglichkeiten sogar bewusst für eigene Zwecke, etwa durch »Homestories« oder die öffentliche Inszenierung privater Ereignisse wie Hochzeiten, Schwangerschaften, Krankheiten, Scheidungen oder Todesfälle. Doch auch Nichtprominente erhalten eine Plattform – sei es in Talkshows, bei denen oft der Peinlichkeitsgrad der Teilnehmer entscheidend für deren Auswahl ist, oder im »Reality-TV«, das sich bezeichnenderweise mit dem Begriff »Big Brother« schmückt.
Diese neuen Formen öffentlicher Darstellung führen nicht nur zum Verschwinden der Privatsphäre Betroffener. Ebenso banalisiert und entpolitisiert die häufige Berichterstattung über Privatangelegenheiten die stark mediengeprägte Öffentlichkeit insgesamt. So rückt das private Verhalten von Politikern immer öfter in den Fokus der Öffentlichkeit und wird mitunter detaillierter beobachtet und breitgetreten als ihr öffentliches Wirken als Abgeordnete oder Minister. In den USA wurde beispielsweise eine vom Präsidenten Clinton nominierte Generalstaatsanwältin vom Kongress abgelehnt, weil sie einige Jahre zuvor eine illegale Einwanderin als Kindermädchen beschäftigt hatte. Derselbe Präsident entging nur knapp einer Amtsenthebung wegen eines außerehelichen Verhältnisses mit einer Praktikantin. In Schweden trat eine Ministerin zurück, weil sie Rundfunkgebühren nicht gezahlt hatte. Auch in Deutschland wird mitunter ausführlicher über die Frisur der Bundeskanzlerin berichtet als über ihre politische Arbeit.
Generell lässt sich feststellen, dass heute Privatangelegenheiten weit freizügiger öffentlich gemacht werden – bis hin zu intimen Details, deren Diskussion früher selbst im privaten Kreis weitgehend tabu war. Auch im öffentlichen Raum offenbaren Mobiltelefone, Laptops und ähnliche technische Geräte häufig private Informationen bedenkenlos. Private Homepages, Chatrooms, digitale Fotoalben und andere Internetangebote erfreuen sich gerade deshalb großer Beliebtheit, weil Nutzer bereitwillig persönliche Details preisgeben und so ihre Persönlichkeitsprofile einer weltweiten Öffentlichkeit zugänglich machen.
Sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene gilt es nunmehr zu lernen, wie mit diesen neuen digitalen Dimensionen des Lebens umzugehen ist. Dazu gehört vor allem ein wachsendes Bewusstsein darüber, was mit preisgegebenen Informationen geschehen kann. Ebenso notwendig ist ein angemessener Schutz gegen Registrierung, Manipulation und Missbrauch dieser Daten. Dies stellt eine bedeutende – leider bislang weitgehend vernachlässigte – Aufgabe des Staates in der Informationsgesellschaft dar. Während staatliche Institutionen – von Polizei bis Finanzverwaltung – immer mehr Daten über Bürger erheben wollen, bleiben diese oftmals ohne ausreichenden Schutz vor Ausspähung, Missbrauch oder Verfälschung ihrer persönlichen Informationen zurück.