Es wird häufig angedeutet, dass die abrupt und unerwartet stattgefundene Wiedervereinigung dazu führte, dass bei der Implementierung der Marktwirtschaft und der Privatisierung verschiedene Fehler unvermeidlich waren. Bei einer eingehenden Analyse zeigt sich jedoch ein völlig anderes Bild, das nicht so recht in die gängige Erzählung hineinpasst.

“So übernahm die Treuhand am 1. Juli 1990 mehr als 7800 Einzelbetriebe mit vier Millionen Beschäftigten”

>>Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert von Ulrich Herbert (Buch) <<

“So übernahm die Treuhand am 1. Juli 1990 mehr als 7800 Einzelbetriebe mit vier Millionen Beschäftigten. Ihr wurden zudem Grundflächen übereignet, die insgesamt etwa die Hälfte des Territoriums der DDR ausmachten. Die Treuhand sollte nun die Betriebe vorrangig privatisieren, gegebenenfalls bei der notwendigen Sanierung helfen und, sollten sich einzelne Unternehmen dennoch als nicht marktfähig erweisen, zur Not auch stilllegen. Ursprünglich hatte die Treuhand mit einem enormen Privatisierungsgewinn gerechnet – «der ganze Salat ist 600 Milliarden wert», hatte Rohwedder im Herbst 1990 geschätzt.”

“Ursprünglich hatte die Treuhand mit einem enormen Privatisierungsgewinn gerechnet”

Dieser Abschnitt der Erzählung über die Treuhand ist weitgehend bekannt. Der Verkauf und die Schließung der Unternehmen wurde als alternativlos dargestellt. Allerdings ist dies nur ein Teil der gesamten Wahrheit, denn die Planungen für dieses Vorgehen waren zu jener Zeit fast ebenso alt wie die DDR selbst. Bei der Eingliederung der DDR in die BRD zeigen sich markante Ähnlichkeiten zu den Vorschlägen des Forschungsbeirats für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands, der im Jahr 1975 in Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen umbenannt wurde.

“Schlagartig” – “Nach der Wende wurden der DDR-Wirtschaft als Erstes die Märkte genommen”

>>Jetzt reden wir Weiter: Was heute aus der DDR-Wirtschaft zu lernen ist von Kombinatsdirektoren  (Buch) <<

“Als vorrangige Ziele im Falle der Wiedervereinigung definierte diese Institution die Auflösung der volkseigenen Betriebe durch Reprivatisierung, Rückführung des Volkseigentums in Privateigentum und Vernichtung der Eliten durch Entlassung von bis zu 90 Prozent der öffentlichen Bediensteten der DDR. Der Forschungsbeirat empfahl, die meisten Betriebsleitungen sofort auszuwechseln. 1956 entstand eine Richtlinie für Übergangsmaßnahmen im Bereich der Düngemittel. Es hieß, dass in der Sowjetischen Besatzungszone Kapazitäten bei Kali existierten, die im Falle der Wiedervereinigung Überkapazitäten für Gesamtdeutschland darstellen würden. Genau nach diesem Schema agierte die Treuhandanstalt. Nach der Wende wurden der DDR-Wirtschaft als Erstes die Märkte genommen. Schlagartig. Absatzverträge mit dem Binnenhandel galten nichts mehr, plötzlich waren die Regale mit West-Erzeugnissen gefüllt. Ein Albtraum. … Auch unsere Exportmärkte wurden nach und nach durch westliche Produkte besetzt. Für mich war es wie ein Krieg ohne Waffen. Unser Gebiet wurde okkupiert. Wir versuchten, über Nacht einen Außendienst auf die Beine zu stellen und mit den Handelsketten zu verhandeln. Aber es blieb aussichtslos. Sie listeten uns nicht.”

“Rückführung des Volkseigentums in Privateigentum und Vernichtung der Eliten durch Entlassung”

Zusätzlich war offensichtlich, dass bei der Einführung der West-Mark in Ostdeutschland bereits im Vorfeld bekannt war, dass Währung und Wirtschaftsraum nicht kompatibel sein würden. Bemerkenswerterweise existierte bereits rund 50 Jahre vor der Wiedervereinigung eine sogenannte “Haupttreuhandstelle Ost“.

“Der Forschungsbeirat konnte dabei auf Erfahrungen aus der Hitlerzeit zurückgreifen”

>>Heise.de<<

“Der Forschungsbeirat konnte dabei auf Erfahrungen aus der Hitlerzeit zurückgreifen. Im März 1938 war Österreich annektiert worden. Und ab September 1939 begann die Zerstückelung Polens und die Annexion seiner westlichen Provinzen. … Zu den etablierten Maßnahmen gehörte immer eine Währungsunion. Dabei wurde die Währung des Gebiets, das übernommen werden sollte, kurz vor ihrer Liquidation noch einmal künstlich aufgewertet, “um das annektierte Territorium schlagartig von seinen ökonomischen Außenbeziehungen abzutrennen und seine Kapital- und Warenmärkte für einen radikalen Durchdringungsprozess seitens der Unternehmen der Annexionsmacht zu öffnen”.

“Währung des Gebiets, das übernommen werden sollte, kurz vor ihrer Liquidation noch einmal künstlich aufgewertet”

Es hätten jedoch durchaus alternative Möglichkeiten zur Wiedervereinigung in Betracht gezogen werden können. Besonders die damalige Tschechoslowakei verfolgte in diesem Zusammenhang einen völlig anderen Weg.

“Die Couponprivatisierung im Rückblick”

>>Radio Prag<<

“Die Couponprivatisierung im Rückblick – Die Grundidee bestand darin, den von den Kommunisten als volkseigen deklarierten Staatsbesitz tatsächlich in die Hände des Volkes zu bringen. Gegen eine bescheidene Verwaltungsgebühr konnte ein sogenanntes Couponheft mit Investitionspunkten erworben werden, und über diese Punkte konnten Anteile an Staatsfirmen erworben werden. Die Bürger kamen damit erstmals mit dem Gesetz von Angebot und Nachfrage in Kontakt, und rückblickend hat sich gezeigt, dass Unternehmen, die damals sehr begehrt waren, heute nicht zu den besten gehören. Wer sich nicht selber zu investieren traute, konnte sein Punkteheft auch einem der vielen zu diesem Zweck entstandenen Investitionsfonds anvertrauen und dafür nicht einen Anteil an den einzelnen Staatsunternehmen, sondern diesem Investitionsfonds erwerben.”

“Von den Kommunisten als volkseigen deklarierten Staatsbesitz tatsächlich in die Hände des Volkes zu bringen”

Die Couponprivatisierung ist bis zum heutigen Tag im benachbarten Land ein umstrittenes Thema geblieben. Trotzdem bietet sie eine deutlich vorteilhaftere Option und verdeutlicht, dass die Privatisierung durch die Treuhand keinesfalls die einzige Lösung war.