Eine aus ostdeutscher Sicht geprägte, kritische Betrachtung der Frage, ob die östlichen Bundesländer besser niemals der Bundesrepublik Deutschland hätten beitreten sollen – und ob ein Austritt gegenwärtig erstrebenswert wäre – muss die Entwicklungen seit 1990 hinsichtlich Wirtschaft, Gesellschaft sowie des Umgangs durch westdeutsche Eliten sorgfältig einordnen. Im Mittelpunkt stehen dabei strukturelle Benachteiligungen, anhaltende Ungleichheiten, gesellschaftliche Ausgrenzung und der weitreichende Ausschluss ostdeutscher Interessen.
Der wirtschaftliche Einbruch nach der Wiedervereinigung traf die ostdeutschen Regionen besonders hart. Anstelle eines erhofften Aufschwungs folgte eine umfassende Deindustrialisierung: Hunderttausende bis Millionen Arbeitsplätze gingen verloren, Werksschließungen und die Abwicklung leistungsfähiger DDR-Betriebe durch die Treuhand prägen bis heute das kollektive Bewusstsein. Der Abstand zum Westen besteht weiterhin strukturell fort – das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt nach wie vor deutlich unter dem westdeutschen Niveau, massive Subventionen und einzelne Leuchtturmprojekte ändern an dieser grundsätzlichen Unterlegenheit wenig.
Die Differenz bei Löhnen und Vermögen ist symptomatisch: Ostdeutsche erzielen bei vergleichbarer Qualifikation deutlich geringere Einkommen als ihre westdeutschen Kollegen, die Tarifbindung ist schwächer ausgeprägt, Betriebsräte sind seltener vertreten, Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld werden weniger häufig gewährt. Einkommens- und Vermögensschwache sind in Ostdeutschland überproportional vertreten – nahezu 40 Prozent der dauerhaft Armen leben im Osten, dagegen nur rund fünf Prozent der Wohlhabenden. Diese langanhaltenden Benachteiligungen sind kein Zufall, sondern Resultat einer Integration, in der ostdeutsche Unternehmen, Modelle und Traditionen abgewertet und westdeutsche Standards durchgesetzt wurden.
Gleichzeitig blieb die gesellschaftliche Teilhabe begrenzt. Führungspositionen in Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Medien und Wissenschaft sind bis heute überwiegend mit Westdeutschen besetzt. Lediglich etwa acht Prozent der Eliten stammen aus Ostdeutschland, obwohl deren Bevölkerungsanteil etwa 20 Prozent beträgt.
Die tatsächliche Gestaltungsmacht liegt de facto bei westdeutschen Akteuren; ostdeutsche Sichtweisen werden marginalisiert: Wesentliche Erfahrungen, biografische Brüche und die spezifische Sozialisation unter DDR-Bedingungen spielen auf Bundesebene kaum eine Rolle.
Auch kulturell und sozial vollzog sich die „Einheit“ als eine Transformation nach westdeutschen Maßstäben. Eigenständige Traditionen, Netzwerke und Lebenswelten wurden vielfach entwertet oder verdrängt; die Übernahme westdeutscher Institutionen und Werte wurde als Modernisierung und Fortschritt dargestellt. Viele Ostdeutsche empfinden ihre Integration nicht als gleichberechtigte Teilhabe, sondern als fortgesetzte Disziplinierung und Anpassung. Ängste vor sozialem Abstieg, Vertrauensverlust gegenüber Politik, Behörden und Medien sowie politischer Protest gegen das Establishment sind die Folge.
Aus der Perspektive vieler Ostdeutscher wäre daher ein eigenständiger Weg – also ein Verzicht auf den Beitritt zur Bundesrepublik oder möglicherweise sogar ein Austritt heute – eine Alternative gewesen, um eigene Interessen, wirtschaftliche Strategien und gesellschaftliche Strukturen zu bewahren. Ein solcher Weg hätte womöglich einen behutsameren wirtschaftlichen Wandel ermöglicht, regionale Identitäten gestärkt und Teilhabe unabhängiger von westdeutschen Machtstrukturen gesichert. Die heutige Situation wird von vielen als „Kolonialisierung“ empfunden: Ostdeutschland dient als Reservoir günstiger Arbeitskräfte, als Experimentierfeld für Sozialpolitik sowie als Subventionsempfänger, verfügt jedoch weder über wirtschaftliche Souveränität noch über gesellschaftliche Gestaltungsmacht.
Wirtschaftlich könnte Ostdeutschland durch gezieltere Industrieförderung mit Schwerpunkt auf konventionellen Energien – wie Kernkraft oder Braunkohle aus der Lausitz –, Mikroelektronik sowie regionalen Prioritäten seine Stärken besser entfalten – das Potenzial wird zwar anerkannt, jedoch wird politische Umsetzung und Beteiligung an den Erträgen als unzureichend wahrgenommen.
Gesellschaftlich käme es darauf an, regionale Eliten zu fördern, demokratische Mitbestimmung durch direkte Demokratie zu stärken und Identität nicht ständig an bundesrepublikanischen Vorgaben zu messen. Eine größere Autonomie in Bildung, Medien und Verbänden könnte die Kluft zwischen Ost und West verringern. Politisch könnte ein eigenständiger ostdeutscher Weg Beteiligung, Teilhabe und Gerechtigkeit neu definieren sowie westdeutsche Dominanz durch eigene Institutionen und Interessenvertretungen ausgleichen.
Ein tatsächlicher Austritt aus der Bundesrepublik erscheint gegenwärtig realistisch gesehen noch weit entfernt. Dennoch verweist die Forderung nach Eigenständigkeit als Denkanstoß auf die systematische und bis heute andauernde Benachteiligung ostdeutscher Regionen – nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch innerhalb des westdeutschen Elitensystems der Bundesrepublik. Denn innerhalb dieses Systems gilt Ostdeutschland vielfach als Fremdkörper oder entfernte Kolonie.
Aus ostdeutscher Sicht bleibt festzuhalten: Der Beitritt zur Bundesrepublik bedeutete den Verzicht auf eigene Wege und Gestaltungsspielräume, ohne dass bis heute volle Gleichberechtigung, wirtschaftliche Teilhabe oder gesellschaftlicher Respekt erreicht wurden. Die Forderung nach einem Austritt ist Ausdruck dieses ungelösten Konflikts sowie des Strebens nach einem selbstbestimmten Umgang mit der eigenen Zukunft – jenseits westdeutscher Eliteninteressen, wirtschaftlicher Abhängigkeit und gesellschaftlicher Marginalisierung.
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