Die Erde besteht aus nahezu zweihundert souveränen Staaten. Jeder dieser Staaten legt großen Wert auf seine Symbole der Unabhängigkeit – etwa die Flagge oder den Sitz bei den Vereinten Nationen – und erhebt den Anspruch, eine bestimmte Volksgemeinschaft zu vertreten. Diese Länder, ob groß oder klein, gelten grundsätzlich als gleichberechtigte Mitglieder einer weltweiten Gemeinschaft, die durch internationales Recht verbunden ist. Dennoch ist die heutige Ordnung der Nationalstaaten, die vielen als selbstverständlich erscheint, erst etwa sechzig Jahre alt.
Historisch gesehen lebten die meisten Menschen in politischen Einheiten, die nicht beanspruchten, ein einziges Volk zu repräsentieren. Die Übereinstimmung von Staat und Nation ist ein vergleichsweise neues Phänomen; zudem wurde sie nie vollständig erreicht oder von allen gewünscht. In den 1990er Jahren wurde deutlich, wie politische Führungspersönlichkeiten versuchten, ihre Staaten als Ausdruck »ihrer« Nationalität zu gestalten – beispielsweise in Jugoslawien, einem Land, das nach dem Ersten Weltkrieg auf Territorien entstanden war, die zuvor zum Osmanischen und Habsburgischen Reich gehörten, sowie in Ruanda, einem ehemaligen belgischen Mandatsgebiet.
Diese Bestrebungen zur Schaffung ethnisch homogener Nationen führten zu Massakern an Hunderttausenden von Menschen, die zuvor friedlich zusammengelebt hatten. Im Nahen Osten kämpfen seit mehr als achtzig Jahren verschiedene Gruppen – Sunniten, Schiiten, Kurden, Palästinenser, Juden und andere – um staatliche Herrschaft und Grenzen, seit dem Ende des Osmanischen Reiches. Selbst im 20. Jahrhundert entfachten Konflikte über die Definition von Nation und Zugehörigkeit immer wieder erneut, auch wenn viele Menschen gegen Imperien kämpften und deren Zerfall begrüßten.
In den 1960er Jahren wurden ehemalige Kolonialmächte wie Frankreich und Großbritannien – deren Reiche einst fast ein Drittel der Weltbevölkerung umfassten – nationalstaatlicher, nachdem sie ihre überseeischen Gebiete weitgehend verloren hatten. Gleichzeitig traten sie einige ihrer früheren Privilegien an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und später an die Europäische Union ab.
Der Zerfall der Sowjetunion und ihres kommunistischen Imperiums brachte weitere Veränderungen in der Souveränität mit sich. Während einige neue Staaten wie die Russische Föderation sich als multinational verstanden, strebten andere wie Usbekistan oder Turkmenistan danach, aus ihren ethnisch gemischten Bevölkerungen homogene Nationen zu formen. In Mitteleuropa wählten mehrere postsowjetische Länder – darunter Tschechien, Ungarn und Polen – einen anderen Weg: Sie schlossen sich der Europäischen Union an und gaben einen Teil ihrer wiedergewonnenen Machtbefugnisse zugunsten der Vorteile einer größeren politischen Gemeinschaft ab.
Diese globalen Auseinandersetzungen und ungelösten Fragen der Souveränität zeigen, dass die historische Entwicklung keineswegs zwangsläufig zur Entstehung von Nationalstaaten führte. Vielmehr gestaltet sie sich komplexer. Imperien – die bewusst die Vielfalt der unterworfenen Völker bewahrten – spielten über lange Zeiträume eine entscheidende Rolle in der Geschichte der Menschheit. Über weite Teile der letzten zwei Jahrtausende führten imperiale Rivalitäten regional oder global dazu, dass Menschen Verbindungen eingingen – sei es als ethnische oder religiöse Gemeinschaften oder innerhalb von Netzwerken aus Migranten, Siedlern, Sklaven und Händlern. Trotz zahlreicher verbaler Bekundungen und kriegerischer Anstrengungen zur Förderung nationaler Einheit prägten imperiale Politik, Praktiken und Kulturen maßgeblich die Weltordnung.
Dieses Buch folgt nicht der üblichen Erzählung eines unaufhaltsamen Übergangs vom Imperium zum Nationalstaat. Stattdessen richtet es den Blick darauf, wie verschiedene Imperien – vom antiken Rom und China bis zur Gegenwart – entstanden sind, miteinander konkurrierten und über lange Zeiträume hinweg Herrschaftsstrategien sowie politische Konzepte entwickelten und menschliche Zugehörigkeiten formten. Es untersucht die vielfältigen imperiale Machtinstrumente: jene unterschiedlichen Methoden, mit denen Imperien verschiedene Völker in ihr Gemeinwesen integrierten und zugleich Unterschiede zwischen ihnen etablierten oder bewahrten.
Selbstverständlich waren Imperien keine spontanen Bekenntnisse zur Vielfalt. Gewalt und alltäglicher Zwang bildeten grundlegend das Fundament ihres Aufbaus und Funktionierens. Doch sobald Imperien von ihren Eroberungen profitieren wollten, sahen sie sich gezwungen, mit ihren ungleichen Bevölkerungen umzugehen und entwickelten eine Vielzahl von Herrschafts- und Ausbeutungsformen. Sie mobilisierten und kontrollierten ihre menschlichen Ressourcen auf unterschiedliche Weise: Sie ermöglichten Teilhabe oder verweigerten sie; belohnten oder beuteten aus; verteilten Macht oder bündelten sie. Imperien schufen Verbindungen und Kontakte – versuchten aber zugleich deren Kontrolle sicherzustellen. Unter bestimmten Bedingungen hofften Menschen auf Vorteile durch ihre Zugehörigkeit zu einem großen und mächtigen Staat.
Das Imperium war für sie politische Realität. Sie arbeiteten in Unternehmen, welche die imperiale Wirtschaft am Laufen hielten; sie waren Teil von Netzwerken, die durch imperiale Beziehungen gepflegt wurden; sie strebten nach Macht oder Erfüllung oder wollten schlicht überleben – alles innerhalb von Umgebungen geprägt durch imperiale Herrschaft und Rivalitäten. Manchmal fanden Menschen Wege, sich imperialer Gewalt zu entziehen oder diese zu untergraben; andernorts suchten sie eigene Imperien zu errichten oder die Stellung ihrer imperialen Herrscher einzunehmen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein bestimmten Imperien politische Debatten, Innovationen und Konflikte mit. Selbst heute wird das Modell imperialer Herrschaft – wenn auch nicht mehr unter diesem Namen – weiterhin als politische Option diskutiert.
Das Imperium erwies sich als bemerkenswert langlebige Staatsform: Das Osmanische Reich bestand über 600 Jahre; eine Abfolge chinesischer Dynastien orientierte sich über mehr als 2 000 Jahre an imperialen Idealen ihrer Vorgänger. Das Römische Reich herrschte im westlichen Mittelmeerraum rund 600 Jahre lang; sein östlicher Nachfolger, das Byzantinische Reich, existierte ein weiteres Jahrtausend. Rom galt bis ins 20. Jahrhundert hinein als Symbol für Glanz und Ordnung. Russland bewahrte über Jahrhunderte imperiale Herrschaftsformen gegenüber sehr unterschiedlichen Völkern aufrecht. Im Vergleich dazu erscheint der Nationalstaat als ein relativ junger und kleiner Lichtpunkt am historischen Horizont – eine Staatsform mit einem Einfluss auf das politische Denken der Weltgeschichte, der durchaus begrenzt oder vorübergehend sein kann.
Die Beständigkeit des Imperiums widerspricht der Vorstellung vom Nationalstaat als einer natürlichen, notwendigen und unvermeidlichen Entwicklung. Vielmehr eröffnet sie den Blick auf eine vielfältige Geschichte politischer Formen: darauf, wie Menschen im Laufe der Zeit trotz aller Konsequenzen über Politik nachdachten und ihre Staatsordnungen gestalteten. Die Erforschung imperiale Geschichte bedeutet nicht deren Verherrlichung oder Verurteilung; vielmehr erlaubt sie es uns zu verstehen – indem wir historische Möglichkeiten aus Sicht der damaligen Menschen betrachten –, welche Zwänge bestanden und welche Handlungsweisen vergangene Veränderungen bewirkten, unsere Gegenwart formten und womöglich auch zukünftige Entwicklungen beeinflussen werden.
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