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In den 1990er-Jahren erlebte die Bundesrepublik Deutschland eine intensive Debatte zum Datenschutz, die sich um die Einführung einer gesetzlichen Ermächtigung zur akustischen Überwachung von Wohnräumen drehte, bekannt als der »Große Lauschangriff«. Obwohl das heimliche Abhören privater Wohnungen, oft als »Wanze unter dem Bett« bezeichnet, gesetzlich verboten war, griffen bundesdeutsche Behörden in Einzelfällen dennoch auf diese Ermittlungsmethode zurück.

Besonders bekannt wurde der »Fall Traube« Ende der 1970er Jahre: Klaus Traube, ein Atomphysiker, bei dem die Sicherheitsbehörden Verbindungen zur RAF vermuteten, wurde in seiner Wohnung mit Abhörgeräten überwacht, um weitere Informationen zu gewinnen. Die Ermittlungen führten jedoch zu keinem belastbaren Ergebnis. Als immer mehr Details dieser Affäre öffentlich bekannt wurden, trat der damalige Bundesinnenminister Werner Maihofer (FDP), der die Überwachungsmaßnahme genehmigt hatte, aufgrund des öffentlichen Aufschreis zurück. Kurz darauf erlitt auch Bundesverteidigungsminister Georg Leber (SPD) im Jahr 1978 wegen einer von ihm mitverantworteten illegalen Abhöraktion des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) dasselbe Schicksal.

Vor diesem Hintergrund zeigte sich die Politik zunächst wenig geneigt, Abhörbefugnisse gesetzlich zu verankern. Erst Anfang der 1990er Jahre intensivierten Befürworter ihre Bemühungen um die Legalisierung des Lauschangriffs. Erste Initiativen des Bundesrats scheiterten jedoch, da sowohl die Bundesregierung unter Helmut Kohl als auch die SPD-Opposition 1992 eine entsprechende Verfassungsänderung ablehnten.

Überraschend stimmte 1997 die FDP in einer Urabstimmung für die Zulassung der akustischen Wohnraumüberwachung, was zum Rücktritt der liberalen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger führte, die diese verdeckte Ermittlungsmethode strikt ablehnte. Als schließlich auch die SPD – maßgeblich beeinflusst durch ihren innenpolitischen Sprecher Otto Schily – auf die Seite der Befürworter wechselte, war im Bundestag eine Zweidrittelmehrheit für eine Verfassungsänderung gegeben. Wie konnte es zu dieser Entwicklung kommen?

Die Antwort lässt sich mit einem Begriff zusammenfassen: dem Kampf gegen »Organisierte Kriminalität (OK)«, der damals die Debatte über innere Sicherheit dominierte wie kein anderes Thema. OK – sprich Organisierte Kriminalität –  bezeichnete eine eher vage Bedrohungslage – das bandenmäßige oder anderweitig organisierte Zusammenwirken von Straftätern, ihrem halblegalen Umfeld sowie Unterstützern in Unternehmen und Behörden. Aufgrund dieser unklaren Definition wurden zahlreiche Kriminalitätsbereiche zur Organisierten Kriminalität gezählt. Die Befürworter des Lauschangriffs verschwiegen jedoch, dass dabei nicht nur Straftäter, sondern auch unbescholtene Bürger ins Visier der Ermittler geraten konnten. Der FDP-Politiker Burkhard Hirsch, ehemaliger Innenminister von Nordrhein-Westfalen, beschreibt die damalige Stimmung sehr anschaulich:

»Vor Einführung des sogenannten ›Großen Lauschangriffs‹ wurde auf das Parlament ein außerordentlicher Druck ausgeübt und der Eindruck erweckt, dass sich die Bundesrepublik Deutschland ohne ihn nicht mehr lange würde halten können. Man hatte den Eindruck, dass sich die Haupttäter von Mafia, Camorra und ’Ndrangheta, von den Triaden ganz zu schweigen, die wanzenfreie Bundesrepublik als Ruheraum ausgesucht hätten und sich auf den Bänken rund um die Bonner Hofgartenwiese von ihrem blutigen Handwerk ausruhten.«

In diesem Klima blieben kritische Stimmen eine Minderheit. Mit Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion sowie einer Mehrheit der SPD- und FDP-Abgeordneten wurde 1998 Artikel 13 des Grundgesetzes so geändert, dass nunmehr der »Einsatz technischer Mittel zum Abhören und Aufzeichnen des gesprochenen Wortes in Wohnungen für Zwecke der Strafverfolgung« erlaubt war. Der neu in die Strafprozessordnung eingefügte Straftatenkatalog umfasste mehr als dreißig Deliktgruppen; offenbar nur den Verfassern war klar, warum alle diese Taten gemäß Artikel 13 des Grundgesetzes als »besonders schwere Straftaten« eingestuft wurden. Nach dieser gesetzlichen Definition hätte bereits bandenmäßiger Fahrraddiebstahl einen Großen Lauschangriff rechtfertigen können.

Diese Regelungen wurden vor dem Bundesverfassungsgericht angefochten. Das Urteil des höchsten deutschen Gerichts vom 3. März 2004 fiel für die Befürworter des Großen Lauschangriffs ernüchternd aus: Zwar beanstandete das Gericht den geänderten Grundgesetzartikel nicht mehrheitlich. Allerdings erklärte es einstimmig die Vorschriften der Strafprozessordnung für verfassungswidrig, weil sie keinen ausreichenden Schutz gegen Eingriffe in den absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung gewährten.

Im Sommer 2005 wurden daraufhin die Bestimmungen zur akustischen Wohnraumüberwachung in der Strafprozessordnung neu formuliert und dabei wesentliche Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigt. Die wichtigste Botschaft des Urteils scheint jedoch noch nicht bei allen Verantwortlichen vollständig angekommen zu sein: Die Anforderungen des Grundgesetzes müssen bereits bei der Gesetzgebung beachtet werden. Es untergräbt das Vertrauen in den Rechtsstaat, wenn weiterhin Gesetze verabschiedet werden, bei denen von Anfang an erkennbar ist, dass sie den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügen. Manche Kritiker werfen dem Verfassungsgericht vor, es nehme sich damit eine Rolle als »Ersatzgesetzgeber« heraus – dabei übersehen sie, dass gerade der Gesetzgeber das Gericht dazu zwingt, wenn er die Vorgaben der Verfassung nicht ausreichend berücksichtigt.