Netzwerkdurchsetzungsgesetz und das sogenannte „Overblocking“: Wenn nicht einmal der Anlass für eine Löschung mitgeteilt wird?

Im Rahmen des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes sind Anbieter sozialer Netzwerke dazu verpflichtet, ein Verfahren zur Bearbeitung von Beschwerden über rechtswidrige Inhalte einzuführen. Dadurch übernehmen sie neben den Urhebern selbst eine größere Verantwortung für die Inhalte, die sie verbreiten. Bei eindeutig rechtswidrigen Inhalten ist der Anbieter verpflichtet, diese innerhalb von 24 Stunden zu entfernen; für alle anderen, als „schlicht rechtswidrig“ klassifizierten Inhalte, muss die Entfernung innerhalb von sieben Tagen erfolgen. Kommt der Anbieter dieser Verpflichtung nicht nach, begeht er eine Ordnungswidrigkeit, was mit hohen Geldstrafen geahndet werden kann. Daher stellt sich die Frage, was genau unter „schlicht rechtswidrigen“ Inhalten zu verstehen ist. Ist es etwa eine Katze, die ihre rechte Vorderpfote hebt – ein klar verfassungsfeindliches Zeichen?
In Anbetracht der kurzen Fristen könnte man annehmen, dass Anbieter geneigt sind, bei Beschwerden vorsichtshalber Inhalte zu entfernen, auch wenn die Annahme einer Rechtswidrigkeit objektiv fraglich ist. Dies würde bedeuten, dass sie die Meinungsfreiheit möglicherweise einschränken könnten, selbst wenn objektiv die Grenzen des Grundrechts auf Meinungsfreiheit gemäß Artikel 5 des Grundgesetzes nicht überschritten werden. Die Sorge um ein massives „Overblocking“, also die massenhafte Löschung kontroverser, jedoch legaler Inhalte, hat sich bereits bewahrheitet. Oft erfahren die Content-Ersteller nicht einmal den Grund für die Löschung. Der Gesetzgeber des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes verfolgt den ansprechend klingenden Gedanken der „regulierten Selbstregulierung“.
Diese Idee erweist sich angesichts der sich schnell verändernden technologischen Rahmenbedingungen und Möglichkeiten zunächst als durchaus überzeugend. Andererseits muss in diesem Kontext jedoch die hohe wertsetzende Bedeutung der grundgesetzlich garantierten Meinungsfreiheit berücksichtigt werden. Obwohl das Ziel des Gesetzgebers, Menschen vor illegalen Inhalten zu schützen, lobenswert ist, besteht das Risiko, dass das Netzwerkdurchsetzungsgesetz gleichzeitig auch die Kommunikationsgrundrechte gemäß Artikel 5 des Grundgesetzes einschränkt und somit die Meinungs- und Informationsfreiheit der Nutzer sozialer Netzwerke beeinträchtigt, was im Endergebnis sich auch auf die politischen Wahlen auswirkt. Letztlich hat sich das Netzwerkdurchsetzungsgesetz in der gelebten Praxis zu einem Instrument der Zensur in privater Hand entwickelt.
Bei der Festlegung der Grenzen der Meinungsfreiheit müssen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts äußerst strenge Maßstäbe angelegt werden. Die Freiheit der Meinungsäußerung kann im Allgemeinen nur aufgrund einer spezifischen Interessenabwägung im Einzelfall eingeschränkt werden, welche der grundlegenden wertsetzenden Bedeutung der Meinungsfreiheit Rechnung trägt. Wenn private Anbieter jedoch im Zweifel vorsorglich zur Löschung greifen, stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes die besondere Wertentscheidung des Grundgesetzes zugunsten der Meinungsfreiheit ausreichend berücksichtigt hat.
Darüber hinaus wäre zu überlegen, ob nicht aus Gründen der gebotenen „Waffengleichheit“ ein Schutzmechanismus für diejenigen vorgesehen werden sollte, deren Meinungsäußerungen entfernt wurden, falls es zu einer unzulässigen oder voreiligen Löschung gekommen ist.
Hierbei stellt sich jedoch die grundlegende Frage, ob durch diesen Schritt der regulierten Selbstregulierung und der Privatisierung von Streitentscheidungen nicht das staatliche Rechtsprechungsmonopol des Grundgesetzes sowie der rechtsstaatliche Anspruch auf Justizgewährung verletzt wird, indem es zu einer faktischen Ausschaltung staatlicher Gerichtsbarkeit kommt. Genauso wenig wie dies zulässig ist, darf es dem Gesetzgeber gestattet sein, die Kommunikationsfreiheiten unverhältnismäßig zu beschneiden. Die Grenzen der Meinungsfreiheit sind von ihm festzulegen und nicht allein von privaten Anbietern. Er könnte beispielsweise Verhaltensrichtlinien fördern, die von Unternehmen oder Verbänden entwickelt und anschließend vom Staat genehmigt und veröffentlicht werden. Eine solche Lösung würde einer gesetzlich geregelten Selbstregulierung entsprechen und sich an Artikel 40 der Datenschutz-Grundverordnung der EU orientieren, welcher zur transparenten Mitgestaltung aufruft.
Es ist manchmal erstaunlich zu beobachten, wie viele offensichtliche Grundrechtsansprüche von Bürgern problemlos von der Justiz negiert werden. Zusätzlich stellt sich die Frage, ob in Zeiten des Internets und der Digitalisierung die Meinungsfreiheit tatsächlich neu gedacht werden muss. Es steht außer Frage, dass das Internet kein rechtsfreier Raum ist. Alle gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz öffentlicher oder privater Rechtsgüter gelten selbstverständlich uneingeschränkt auch im Internet. Notwendig ist vielmehr eine effiziente Durchsetzung geltenden Rechts im Einklang mit dem Rechtsstaatsprinzip. Hier könnte es erforderlich sein, dass die Gesetzgebung durch Anpassungen in Organisation und Verfahren sicherstellt, dass unter den veränderten technologischen Bedingungen sowohl die Herrschaft des Rechts als auch die staatliche Justizgewährung uneingeschränkt gelten bleibt oder wiederhergestellt wird. Aber – um ein Wort meines Kollegen Stefan Magen aufzugreifen – „die Demokratie ist sicher eine inhärent riskante Ordnung“.