Cyberuniversum & Wissenschaftlichkeit: “Gefahr bestehe, dass sich Menschen der Macht durch Maschinen bedienen würden, um andere zu kontrollieren”

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Schlagworte wie “Folge der Wissenschaft” oder etwas radikaler “Hört auf die Wissenschaft, bevor es zu spät ist!” sind kaum zu überhören. Bei Letzteren handelt es sogar um eine Kernaussage eines Buchtitels. Nur, was will die Wissenschaft überhaupt sagen? Oder, was hat die Wissenschaft eigentlich in der Vergangenheit über die Zukunft gesagt? Dies wäre nun die Gegenwart und tatsächlich haben sie in einigen Punkten recht behalten. Aber es hat schon seine Gründe: Weshalb das Thema überwiegend verschwiegen wird.

“Ein Land namens »Cybertonia« vor, das von einem Roboterrat mit einem Saxofon spielenden Roboter an der Spitze regiert wurde”

>>Türme und Plätze von Niall Ferguson (Buch) <<

“Das Institut für Kybernetik lag in einem Außenbezirk von Kiew. Dort machte sich Viktor Gluschkow 1972 daran, das sowjetische Internet zu entwerfen – mit vollem Namen hieß das Projekt »Allstaatliches Automatisiertes System zum Sammeln und Verarbeiten von Informationen für die Rechnungsführung, Planung und Lenkung der ­Nationalökonomie der UdSSR«. … Gluschkow und seine Kollegen stellten sich ein Land namens »Cybertonia« vor, das von einem Roboterrat mit einem Saxofon spielenden Roboter an der Spitze regiert wurde. Damit sein automatisiertes System vom Kreml akzeptiert wurde, musste es, wie Gluschkow wusste, die dreistufige Pyramidenstruktur der so­wjetischen Planwirtschaft abbilden. Unter allen Umständen musste es ein zentrales Computerdrehkreuz in Moskau geben, das mit nicht weniger als 200 Knoten der mittleren Ebene in wichtigen sowje­tischen Städten verknüpft sein sollte, die wiederum mit 20 000 Computerterminals an zentralen Produktionsstätten verbunden sein würden. Doch während Moskau die Kontrolle über den Netzwerkzugang haben würde, stellte sich Gluschkow vor, dass ­jeder berechtigte Nutzer ohne direkte Erlaubnis des zentralen Knotens mit jedem anderen Nutzer im Netzwerk Kontakt aufnehmen konnte.”

“Allstaatliches Automatisiertes System zum Sammeln und Verarbeiten von Informationen für die Rechnungsführung, Planung und Lenkung der ­Nationalökonomie der UdSSR”

Das Internet ist allgegenwärtig, aber Wort “Kybernetik” wird im Alltag der meisten Menschen kaum mehr verwendet. Heute würde man vermutlich statt “Cybertonia” wohl eher “Cyberuniversum” sagen. Sei es drum. Zumindest ist der Einfluss auf wissenschaftliche Arbeiten hierbei kaum übersehbar. Zur damaligen Zeit war der Fortschrittsglaube in der Sowjetunion offensichtlich noch sehr ausgeprägt. Auch der damalige DDR-Regierungschef Walter Ulbricht hätte mit heutigen Schlagworten wie “Folge der Wissenschaft” durchaus etwas anfangen können. Der Fernsehturm in Berlin legt noch heute vom Geist jener Zeit eindrucksvoll Zeugnis ab.

Fernsehturm in Berlin: “Geist der späten Ulbricht-Jahre, in denen Chemie, Kybernetik, wissenschaftlicher Fortschritt alles waren”

>>Berlin von Jens Bisky (Buch) <<

“Der Fernsehturm bewahrte Berlin vor einem Haus der Regierung nach Moskauer Vorbild, vor einem Palast im Design der Stalinallee. Dergleichen war geplant, aber ein technisches Gebäude zur Repräsentation zu nutzen, passte besser zum Geist der späten Ulbricht-Jahre, in denen Chemie, Kybernetik, wissenschaftlicher Fortschritt alles waren. Wer letztlich die einleuchtende Form fand, ist umstritten; dass Ulbrichts Schinkel, der wendige Hermann Henselmann, schon in den Fünfzigern einen Turm der Signale entwarf, steht fest. Etwas in dieser Art wurde dann gebaut, obwohl Berlin immer eine flache Stadt gewesen war, mit vergleichsweise niedrigen Häusern, ein paar Türmen und Kuppeln.”

“Ulbricht-Jahre” – Kybernetik und der unerschütterliche Glaube an die Wissenschaft

Natürlich will sich – aus rein technischer Sicht – der Sinn eines solch hohen und teuren Turmes nicht wirklich erschließen. Aber es ging um etwas anderes. Es sollt den damaligen wissenschaftlichen Fortschritt jener Zeit repräsentieren.

SED-Parteiprogramm: “Die planmäßige Leitung und Entwicklung der sozialistischen Wirtschaft gemäß dem höchsten Stand der Wissenschaft”

>>Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert von Ulrich Herbert (Buch) <<

“Mit dem Neuen Ökonomischen System glaubten die Chefvolkswirte der DDR den Weg gefunden zu haben, die von ihnen theoretisch deduzierte Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem als historisch überholt angesehenen Kapitalismus auch in der Praxis umsetzen und damit – erstmals in der Geschichte – ein sozialistisches Wirtschaftssystem etablieren zu können, das auf die Bedingungen eines entfalteten Industriestaats ausgerichtet war. Diese historische Perspektive war den Wirtschaftsplanern wie den SED-Politikern stets gegenwärtig, insbesondere Walter Ulbricht, der sich jetzt an die Spitze der Reformer setzte und damit die Einwände der Skeptiker vorerst verstummen ließ. Die Wirtschaftsreformen des NÖS trafen in den Betrieben und bei den Wirtschaftsplanern auf Zustimmung, ja Begeisterung. Im Parteiapparat hingegen blieben viele Kader skeptisch – wenn nun ökonomische Rationalität und Effizienzdenken dominierten, wie ließ sich das mit dem Primat der Politik und dem Führungsanspruch der Partei vereinbaren? Die Antwort hieß: Wissenschaftlichkeit. … «An die Stelle der kapitalistischen Wirtschaftsanarchie», formulierte die SED in ihrem Parteiprogramm vom Januar 1963, «tritt die planmäßige Leitung und Entwicklung der sozialistischen Wirtschaft gemäß dem höchsten Stand der Wissenschaft […]. “

“Walter Ulbricht, der sich jetzt an die Spitze der Reformer setzte und damit die Einwände der Skeptiker vorerst verstummen ließ”

Die Antwort auf beinahe alle Fragen hat also schon damals “Wissenschaftlichkeit” gelautet. Dummerweise hat die Strömung der “Wissenschaftlichkeit” – insbesondere der Kybernetik – ein unerwartet Ende gefunden.

“Ulbricht hatte auch die Idee vertreten, in der DDR die Elektronik eigenständig weiterzuentwickeln”

>>Ausstieg links? Eine Bilanz von Gregor Gysi & Stephan Hebel (Buch) <<

“Ulbricht hatte auch die Idee vertreten, in der DDR die Elektronik eigenständig weiterzuentwickeln. Er hatte ein Institut für Kybernetik gegründet und wollte auch andere moderne Wissenschaften fördern. Das hat Erich Honecker, der Ulbricht 1971 an der Parteispitze ablöste, alles dichtgemacht. … Von all dem hat man allerdings in der DDR höchstens die Hälfte mitbekommen, selbst als Rechtsanwalt. Man erfuhr nur bestimmte Dinge, eher zufällig. Ich hatte eine gute Freundin, die Kybernetik studiert hatte – aber plötzlich arbeitete sie im Museum, weil es in dem Fach gar keine Verwendung mehr gab.”

“Institut für Kybernetik” – “Erich Honecker, der Ulbricht 1971 an der Parteispitze ablöste, alles dichtgemacht”

Die ParteilosungEntwicklung der sozialistischen Wirtschaft gemäß dem höchsten Stand der Wissenschaft” und das Alltagsleben der DDR-Bürger klafften Mitte der 1970er Jahre unübersehbar weit auseinander. Das Experiment einer staatlich gelenkten Wirtschaft durch die “Wissenschaft” kann als gescheitert betrachtet werden. Trotzdem tauchen die damaligen Geister im neuen Gewand immer wieder erneut auf.

“Gefahr bestehe, dass sich Menschen der Macht durch Maschinen bedienen würden, um andere zu kontrollieren”

>>Die KI-Entscheidung von Sven Krüger (Buch) <<

“Daniel C. Dennett weist in Bezug auf die Frage, wie sich die Gesellschaft der Technologie gegenüber positionieren kann, darauf hin, dass bereits eine Gegenwart geschaffen ist, in der George Orwells ‚Ministerium der Wahrheit‘ eine praktische Möglichkeit geworden sei. Eine der verstörenden Lehren aus den jüngsten Erfahrungen mit KI sei die Erkenntnis, dass es viel günstiger sei, eine Reputation zu zerstören, als sie zu schützen. Dennett referenziert auf den Mathematiker und Philosophen Norbert Wiener, der als Begründer der Kybernetik gilt. Wiener sah 1950 in seinem Buch ‚The Human Use of Human Beings‘ vorher, dass die Gefahr bestehe, dass sich Menschen der Macht durch Maschinen bedienen würden, um andere zu kontrollieren: „Its real danger, however, is (…) that such machines, though helpless by themselves, may be used by a human being or a block of human beings to increase their control over the rest of the human race (…).“ (Wiener 1954, S. 181). Dem entgegenzuwirken sei keine leichte Aufgabe, denn der wissenschaftliche Fortschritt rüste über kurz oder lang alle Seiten des Konfliktes gleichermaßen aus: „(…) in the long run, there is no distinction between arming ourselves and arming our enemies.“ (Ebd.). Oder in den Worten von Dennett: „Das Informationszeitalter ist auch das Desinformationszeitalter.“

“Das Informationszeitalter ist auch das Desinformationszeitalter”

Wenn man so möchte, dann stellt die heutige KI nur eine Weiterentwicklung der damaligen Kybernetik dar. Auf alle Fälle sind die Grundprobleme der Kybernetik aus der damaligen Zeit erhalten geblieben. Auch Wissenschaftler können Interessenkonflikten unterliegen und die jeweiligen Machthaben wollen gerne für ihre politische Entscheidung eine nachträgliche Rechtfertigung durch die “Wissenschaft” haben.