Der sorgsame und achtsame Umgang mit Vögeln in der Luft oder das Kleidungsstück, das durch die Luft weht

Nicht alles, was Flügel besitzt, ist tatsächlich zum Fliegen geschaffen, und manche Vogelarten haben das Fliegen sogar verlernt, weil sie lieber am Boden bleiben. Wir Menschen stehen aufrecht auf unseren Füßen und blicken nach oben, wir springen mit aller Kraft und landen binnen Sekunden wieder fest auf der Erde. Unsere Arme sind keine Flügel, die uns in den Himmel tragen könnten, egal wie energisch wir sie schlagen. Doch unsere Gedanken können fliegen – mit genügend Vorstellungskraft heben wir ab und fühlen uns frei. Selbstständig zu denken gleicht ein wenig dem Segeln hoch über dem eigenen Sein.
Wer wie Ikarus in die Lüfte steigen will, sitzt meistens in einem Flugzeug, Segelflieger, einem Drachen oder einem Ballon – jenem Gefährt, das mit heißer Luft gefüllt wird. Erfunden von den Brüdern Montgolfier im Jahr 1783, die den Versuch wagten, den Luftraum zu erobern. Denn der Himmel über uns hat die Menschheit schon immer fasziniert. Ein Weidenkorb, eine handelsübliche Gasflasche, ein Brenner und Sandsäcke – all das verbunden mit Seilen an einem großen Ballon zu befestigen, ist sowohl abenteuerlich als auch mutig. Doch auch am Boden kann man manchmal fliegen.
Wer einmal einen hohen Satz gemacht hat, wünscht sich oft Flügel und Schutzkleidung, die schlimmere Verletzungen verhindert hätte. Wir „fliegen“ aus der Schule oder verlieren eine Stelle, wenn es nicht gut läuft; aber ebenso lassen wir unsere Gedanken schweifen, und manche von uns träumen davon, durch die Luft zu gleiten. Genau dieser Umstand ist manchmal der Grund für eine Kündigung. Andrea Berg sang „mit dir so hoch geflogen“ und war „dem Himmel ja so nah“, und alle singen mit. Selbst ein Insekt tragen wir im Plural als „Fliegen“ – diese kleinen Wesen sind Krimifreunden als die ersten bekannt, die erscheinen, wenn es für uns „ausgeflogen“ ist.
Vor nicht allzu langer Zeit setzte sich eine junge Fliege auf meine Hand und verbrachte den Nachmittag ganz gelassen mit mir. Sie saß mal auf dem Stift, mit dem ich zeichnete, dann auf meinem Arm und schließlich auf meiner Schulter, als wolle sie mir über die Schulter blicken. Sie leckte etwas Wasser, knabberte an einem Krümel und benahm sich tadellos. Ich mochte sie sofort und taufte sie Hildegard.
Nachdem sie viele Stunden bei mir verweilt hatte, trug ich sie in den Garten hinaus. Sie blieb noch kurz sitzen und flog dann davon – nahm jedoch noch einmal kurz auf meiner Schulter Platz, bevor sie endgültig verschwand. Seit diesem Tag fällt es mir unmöglich, einer Fliege nachzujagen oder zuzuschlagen – es könnte ja Hildegard oder eines ihrer Nachkommen sein! Doch nicht nur Insekten und Vögel fliegen; manchmal heben auch Röcke ab. Von einer Frau möchte ich erzählen, die ein tiefes Verlangen verspürte, leicht zu sein. Sie hatte eine innige Verbindung zur Luft und allem Bewegten und konnte sogar einen Heißluftballon steuern. Sie liebte Kleider und Röcke, die beim Drehen förmlich flogen; ihre Drehungen waren so bezaubernd, dass man ihr stundenlang zusehen konnte.
Obwohl sie am Boden schien zu tanzen, war sie ein Wesen der Lüfte – sie hob förmlich ab. An einem heißen Sommertag schwebte sie in mein Leben und vom ersten Moment an dachte ich: „Sie ist ein Vogel.“ Klein war sie zwar, aber keineswegs winzig; gerade genug klein, um stets etwas Sorge um sie zu empfinden. Eine Elfe mit fast durchscheinender Haut wie Fledermausflügel; ihre Nase spitz wie der Schnabel eines Vogels.
Sie erinnerte an ein Küken – ohne dessen Flausch –, flink pickend und scharrend wie eine Bachstelze. Einmal wartete sie bei einer Anprobe so ungeduldig, dass wir sie schneller bedienten als geplant – wir hatten Angst, sie würde sonst mit ihren Schuhen den Parkettboden zerkratzen. Außerdem machte sie vogelähnliche Laute: Zwischen ihren schnellen Worten piepste sie immer wieder; wenn sie entspannt war, gab sie ein Geräusch von sich wie das Lieblingshuhn meines älteren Bruders: „Pooogg“.
Dieses Huhn hieß Gertrud und war eine schwarze Legehenne – der Spielgefährte meines Bruders. Die beiden verbrachten viel Zeit miteinander; mein Bruder versuchte sogar einige Kunststücke mit ihr einzustudieren. Nun ja – Kunststücke sind vielleicht übertrieben –, doch er war überzeugt davon, dass Gertrud von seiner rechten in die linke Hand springen würde, wenn er „Hopp, Gertrud“ rief. Ich habe diesen Trick nie gesehen – leider auch nicht die 500 Schüler in unserer Aula bei ihrem ersten Auftritt zusammen mit meinem Bruder. Es dauerte Jahre bis Gertrud aus vielen Erinnerungen verblasste. „Gertrud Hopp“ wurde ein fester Bestandteil meiner Familie; erst Jahre später starb sie altersbedingt von der Stange herunter. Sie war eine Seele von Huhn und vermutlich eine große Künstlerin – irgendwie meine erste Schwägerin, da sie die erste feste Freundin meines Bruders war.
Glücklicherweise kannte ich damals Thomas Gottschalk noch nicht; ich bin mir sicher: Er hätte Gertrud gewollt – doch „Gertrud Hopp“ hätte jede Wette verloren! Sollte jemals ein Junge mit einem Huhn zum Supertalent gehen: Ich würde ihnen eine Runde weiterhelfen – egal wie wenig der Vogel kann! Das wäre meine kleine Wiedergutmachung. Zurück zu meinem „Fluggerät“ mit zwei dünnen Beinchen und einem schulterlangen grauen Bob-Haarschnitt: Sobald sie sich drehte schrieb ihr Haar seine Bahnen durch die Luft.
Ich hatte nie das Gefühl gehabt, ihr wirklich in die Augen zu sehen – ihr dichtes Pony verbarg diese stets vor mir. Die spitze Nase erinnerte an einen Vogel-Schnabel; es bereitete immer wieder Freude zu beobachten, wenn sich ihr Köpfchen bewegte und ihr Gesicht für kurze Momente sichtbar wurde. Ein seltsames kleines Wesen – eigensinnig dazu –, aber freundlich; es hätte mich nicht überrascht, wenn sie in einem Nistkasten gewohnt hätte. Einmal streckte ich hinter ihr den Finger aus und flüsterte leise „Gertrud, hopp“, doch auch diese Vogelfrau war störrisch und schwer zu trainieren.
Diese Frau hatte einen Sohn – der hatte nichts von der Leichtigkeit seiner Mutter an sich. Zoologisch betrachtet könnte man ihn vorsichtig als Walross bezeichnen: Ein kompletter Gegensatz zu ihr! Wie er aus dieser kleinen Frau hervorgegangen sein konnte ist eines der Wunder des Lebens. Damals war er noch Säugling; doch schon damals wirkte er wie ein Riesenbaby im Hotel Mama wohnend Anfang vierzig Jahre alt. Auf den ersten Blick war klar: Er war unvermittelbar! Als er mir die Hand gab spürte ich einen feuchten Griff – seine Chancen auf dem Heiratsmarkt sanken dadurch erheblich!
Seine Mutter unternahm alles daran ihn unterzubringen – irgendeine Frau musste her! Einmal fragte sie mich: „Er bekommt ein kleines Vermögen – haben Sie nicht jemanden in der Hinterhand? Hier gibt es doch sicher ein nettes Mädchen?“ Nein hatte ich nicht! Und auch wenn es unanständig erscheint: Ich gönnte ihm durchaus eine Partnerin! Doch selbst Millionenerbe machte ihn nicht attraktiver. Er war wirklich kein Hingucker; vermutlich trug seine Mutter deshalb ihr Haar so lang vor das Gesicht. Er schwitzte so stark dass er stets mehrere Hemden zum Wechseln dabei hatte; hätte er nur den trockenen Charme seiner Mutter geerbt! Dann hätte es vielleicht doch die eine oder andere gegeben die beide Augen zugedrückt hätte. Selbst eine Anzeige in der Süddeutschen Zeitung unter „vermögender Alleinerbe“ brachte keine Schwiegertochter hervor! Es lag wohl nicht nur an seinem Aussehen oder seinem übermäßigen Schwitzen (Hyperhidrose).
Er war schlichtweg uncharmant; trank ständig Cola und quengelte wie ein Kind! Zu allem Übel hatte er eine Marotte: Er sagte ständig „äh“ – wenn das nach jedem zweiten Wort kommt ist das kaum auszuhalten. Er wünschte sich allerdings eine Freundin; als ich ihn fragte wie diese denn aussehen solle wurde klar: Er hatte definitiv nicht alle Tassen im Schrank und nie in den Spiegel geschaut! Außerdem war er ein unverbesserlicher Macho; nach dem zweiten „äh“ stand fest: So wie unsere liebe Gertrud würde auch er nie „hopp“ machen! Später erzählte mir seine Mutter von einer Dame die auf seine Kontaktanzeige reagiert hatte: Eine Prostituierte! Ein sehr nettes Mädchen zwar – doch auch sie verzichtete irgendwann wieder. Geld allein macht eben nicht begehrenswert! Sie bekam ihn einfach nicht los; ich schlug vor ihn in eine eigene Wohnung mit Putzhilfe zu stecken. Doch offenbar reichte ihm das Leben mit Playstation und Pizzataxi als Selbstständiger völlig aus.
Vielleicht machten ihr ihre Ballonfahrten das Schweben über Alltagssorgen leichter? Immer wenn sie von ihren Reisen erzählte hörte ich gebannt zu; überzeugt davon niemals diese Freude selbst erleben zu dürfen. Ich sollte mich gewaltig irren! Denn zu meinem Geburtstag schenkte sie mir einen Flug und überredete mich mitzufliegen. „Tellerröcke können auch fliegen“, sagte sie während ich den Saum absteckte; gleich drehte sie sich wieder herum. Ich musste lachen: „Ich mach’s! Ich fliege mit Ihnen.“ Meine Einschränkung nicht allzu hoch oder weit aufzusteigen lächelte sie einfach weg. Weit schwingende Röcke brauchen einen schmalen Bund obenrum oder zumindest an der Taille Körpernähe. Meine Kundin kombinierte stets Pullover mit viel zu weiten Strickjacken; so sah sie oft unförmig aus und wurde ihrer zarten Gestalt nicht gerecht.
Der einzige Grund für ihre gekauften Kleidungsstücke war wohl ihre schmale Taille sowie dass Tellerröcke im Handel selten sind. Ein weit schwingender Rock benötigt enorm viel Stoff da seine Bahnen rund zugeschnitten werden müssen. Kommt noch ein Muster hinzu steigt Materialverbrauch samt Verschnitt erheblich an. Um mich für ihre Einladung zur weniger ersehnten Ballonreise zu bedanken hatte ich mir etwas Besonderes ausgedacht: Ich sammelte fast alle Stoffreste ihrer Röcke zusammen und fertigte daraus eine komplexe Collage in Form eines schwingenden Rockes an. Ich bin kein Fan von Mustermix aber muss sagen: Das Ergebnis war gelungen! Eine reizvolle Kombination voller handwerklicher Kunst! Sicherlich werde ich nie wieder so viel Zeit für einen Tellerrock aufwenden!
Tage verbrachte ich damit Stoffe zuzuschneiden und zusammenzunähen; mehrfach wollte ich abbrechen um nach sicherer Landung meinen Dank mit Blumen auszudrücken. Eine befreundete Designerin besuchte mich im Atelier; begeistert von meiner Arbeit wollte sie mich für den Friedensnobelpreis vorschlagen oder alternativ den Rock direkt ins Kostümmuseum nach Bath bringen lassen.
Der Morgen meines ersten Ballonfluges begann mit großer Verspätung: Mein Auto war noch nicht zurückgekehrt da meine Mitbewohnerin spontan beschloss länger bei ihren Eltern zu bleiben. Der Flugplatz lag außerhalb der Stadt; es kostete mich Mühe pünktlich anzukommen. Rückblickend hatte meine Verspätung Vorteile: Ich musste beim zeitraubenden Aufbau nicht helfen was mir später beim Abbau deutlich wurde. Der Ballon stand bereits vollständig bereit zur Abfahrt! Übrigens wird nie vom Fliegen gesprochen sondern vom Fahren – warum weiß niemand so genau!
Ich jedenfalls fühlte mich eindeutig als wäre ich geflogen! Das Flugfeld (oder Parkplatz für Ballonfahrer?) war gut gefüllt: Etwa zehn Fluggeräte warteten auf ihren Start darunter ungewöhnliche Formen wie ein Glücksschwein oder eine Tüte Kölner Zucker! In diese Zuckertüte wäre ich niemals eingestiegen! Auch der Einstieg in meinen Ballon erforderte Überwindung! Dass unser Ballon Werbung einer Versicherung trug wertete ich als gutes Zeichen: Diese Unternehmen prüfen genau und würden keinen Absturz riskieren – hoffentlich zumindest! Der Korb ist klein und vollgestellt was den Aufenthalt nicht gerade gemütlicher macht.
Als unser Riesenbaby mitsamt Helfern in den Korb gehievt wurde wollte ich laut „Nein!“ rufen und sofort aussteigen! Meine Enttäuschung über diesen Mitreisenden plus Flugangst ließ mich nur noch stumm grüßen. „Hallo“ sagen wollte ich eigentlich gar nicht mehr; ich bangte nur noch ob wir überhaupt abheben würden! Schweißgebadet winkte er allen wild zu rufend: „Jetzt geht’s los! Hallo! Jetzt geht’s los …“ „Frommer Wunsch“, dachte ich still vor mich hin. Wir verloren Bodenkontakt; das fühlte sich magisch an – ja tatsächlich flog ich während andere fuhren!
Der schwitzende Sohn verstummte erst als seine Mutter ihm ein Butterbrot reichte. Bei jeder Bewegung fürchtete ich um unsere Sicherheit denn heiße Luft kann seine Größe nicht einschätzen; und Schwerkraft ist kein Freund von Übergewicht! Wir glitten über die Landschaft; der Wind rauschte um unsere Ohren; nach einiger Zeit gewöhnte ich mich an das Geräusch des Gasbrenners. Meine Kundin strahlte übers ganze Gesicht; hier oben konnte ich ihr Gesicht ungehindert sehen; als ich sagte: „Sie sind ein Vogel – seit dem ersten Moment wusste ich das,“ lächelte sie nur: „Und Sie sind ein Schatz.“ Dieser Augenblick voller Glück bleibt unvergessen; doch just dann überholte uns die Zuckertüte! Das mag pathetisch klingen; doch seit diesem Tag habe ich stets das Gefühl: Mit meinen Träumen wird alles gutgehen! Der perfekte Zeitpunkt meinen Dank auszudrücken war gekommen; hoch oben zog ich mein Geschenk hervor: Den mühsam gefertigten Rock überreichte ich meiner Vogelfrau. Als sie ihn hielt sagte sie etwa: „Wie wunderschön!“; zu ihrem Sohn meinte sie: „Schau mal was Guido für mich gemacht hat.“
Der Unsägliche griff nach dem Rock: „Schau mal wie er flattert …“ Und schon flog er davon! Einfach tanzte er im Wind; ich konnte nur sagen: „Sehen Sie nur wie schön er fliegt.“ Sie erwiderte: „Ich hoffe nur dass er in einem Wohngebiet landet.“ Langsam verschwand er am Horizont; lange dauerte es bis ich ihn nicht mehr erkennen konnte; ich weiß nicht ob er je gefunden wurde; vielleicht landete er auf einer Wiese wo er langsam verging … Sollten Sie ihn gefunden haben und Ihr Schrank ihm neues Zuhause sein, dann wissen Sie jetzt: Es war ein Meisterwerk, vom Himmel gefallen wie Ikarus, und verabschiedete sich im Moment vollkommenen Glücks!