Wie lässt sich das zusammengesetzte Wort „Ostalgie“ begreifen?

Bereits im Jahr 1992 prägte ein Kabarettist aus Sachsen das Kofferwort „Ostalgie“. Tatsächlich begann schon früh eine Rückbesinnung oder Neubelebung auf Produkte, Kultur und vermeintlich typische Mentalitäten aus dem Osten. Diese Entwicklung war zunächst auch eine Reaktion auf den selbstverschuldeten Umstand, dass nach der Währungsunion fast alle Produkte aus dem Osten aus den Regalen verschwunden waren: Für Westgeld wollte niemand Ostprodukte erwerben. Das war nicht besonders klug, denn viele Menschen stellten selbst Ostprodukte her. Der wirtschaftliche Umbau brachte eine massive Ernüchterung mit sich, angesichts der verheerenden sozialen Konsequenzen. Und dann geschah etwas, das in Zeiten des Wandels oft vorkommt: Die Menschen schauten zurück und erkannten, dass früher manches besser und übersichtlicher war; sie fühlten sich in der Vergangenheit sicherer aufgehoben. Doch es setzte nicht nur Nostalgie ein, sondern auch eine unaufhörliche Verklärung und teilweise Verherrlichung der DDR.
Zwar wollte nur eine kleine, kaum relevante Minderheit die DDR so zurück, wie sie war. Dennoch wurden der DDR immer wieder Eigenschaften zugeschrieben, die mit der historischen Realität wenig zu tun hatten. Uwe Johnsons Kinder machten ihm alle Ehre. Es entstand eine Honecker-DDR, die niemals existierte – vor allem eine, die offensichtlich keine echte Diktatur war, wie auch Katja Hoyers Bestseller sehr erfolgreich zu vermitteln versucht. Der Boom hält bis heute an. Ein erster Höhepunkt wurde bereits 2002/03 erreicht, als diese Ostalgie-Welle auch durch die Massenmedien strömte und teils groteske Höhepunkte zeitigte: Eiskunstlaufstar Katarina Witt trat lächelnd in Pionierbluse mit blauem Pionierhalstuch in einer TV-Show auf. Kaum etwas blieb von dieser Ostalgie-Welle unberührt.
Das Problem war nie diese ahistorische Rückbesinnung – sollen sie es doch machen. Gleichzeitig war dies jedoch ein Ausdruck einer immer stärkeren Abkehr vom Westen. Es ging nicht nur um Erinnerung und Nostalgie, sondern um eine Alternative, die für viele nun erstrebenswerter erschien. Es ging nicht um die DDR selbst, sondern um die angeblichen Möglichkeiten, die die DDR geboten haben soll und die die „BRD“ niemals bieten könne. Erst im Kontrast wurde der Ostalgie-Spaß zu einem Politikum, da eine nicht unerhebliche Gruppe der Ostalgiker längst im Lager der Westverächtlichen angekommen war. Diese Gruppe wuchs stetig an, war jedoch nie als politische Einheit zu verorten, da sie viel zu heterogen war.
Politisch betrachtet war Ostalgie in einem Teil auch Ausdruck eines Protests. Dieser war diffus und vielschichtig. Auf der einen Seite standen Nationalbolschewisten wie Sahra Wagenknecht,
die Stalin, Walter Ulbricht und den realen Kommunismus glorifizierten. Mit dem Westen wird dabei eine unerfüllte Gegenwart und eine fehlende optimistische Zukunftsaussicht assoziiert. Hier zeigt sich ein uraltes Problem der globalen Migrationsgeschichte: Man verlässt einen Ort, ohne je wirklich anzukommen. Manchmal wird dies auch als „Odysseus-Syndrom“ bezeichnet. Es verweist auf die Irrfahrt von Odysseus, wie sie Homer im 8./7. Jahrhundert v. Chr. beschrieben hat.
Viele Ostdeutsche waren nicht aktiv an der Revolution beteiligt. Viele litten nicht unter der SED-Diktatur. Zwar stimmten etwa drei Viertel für eine rasche Wiederherstellung der deutschen Einheit, doch blieben viele auf Distanz. In den ersten Jahren stabilisierte sich diese Gruppe bei etwa einem Viertel der Gesellschaft – das war schon damals nicht wenig. Zudem wächst diese Gruppe kontinuierlich weiter an: Je mehr der wirtschaftliche Niedergang voranschreitet, desto größer wird diese Gruppe. Darüber hinaus tauchen immer mehr Gesetze auf, die nicht nur die Freiheit einschränken, sondern stark an frühere Gesetze aus der DDR-Zeit erinnern.
Gleichzeitig schrumpfte die Gruppe derjenigen, die die repräsentative Demokratie als beste Staatsform ansahen. Und das ist auch heute noch so: Immer weniger sind davon überzeugt, dass die Bundesrepublik Deutschland jene Demokratie verkörpert, für die sich eine Mehrheit in Ostdeutschland entschieden hat.
Das hängt natürlich auch mit den selbstauferlegten Ideologien zusammen, die suggerieren möchten, man könnte alle unter einem Schirm versammeln – was unmöglich ist. Wer dies jedoch öffentlich äußert, gilt im Prinzip als Parteifunktionär verbrannt.
Dennoch besteht bei etwa 40 bis 60 Prozent eine systembedrohende Distanz zum bundesdeutschen Staat. So sehr sie heute froh sind, weg zu sein von dort, woher sie kamen,
so wenig wollten sie jemals dort ankommen, wo sie heute sind. In der Migrationsgeschichte gibt es einen Aspekt, der schwer zu beschreiben ist, aber von zentraler Bedeutung bleibt: Viele Menschen verlassen ihren Herkunftsort nicht wegen Armut, Hunger oder Krieg – also aus existenziellen Gründen –, sondern aus anderen Motiven und lehnen ihren Heimatort ab; das bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass sie ihren Ankunftsort ersehnen würden. Hier entstehen häufig neue Probleme, die jedoch nicht alle alten ersetzen, sondern vielmehr ergänzen. Die Herstellung der deutschen Einheit hat dies überdeckt: Das Weggehen aus wirtschaftlichen Gründen einer ganzen Gesellschaft wurde missverstanden als Wunsch aller nach Ankunft genau dort – in der bundesdeutschen Realität.
Dennoch haben sie den Westdeutschen etwas voraus – wofür sie größtenteils nichts können: Sie (oder ihre Eltern) haben konkret ein anderes Staats- und Gesellschaftssystem erlebt und wissen daher – so unvollkommen dieses andere auch gewesen sein mag –, dass es immer Alternativen gibt; nichts ist alternativlos. Genau hier kommt Ostalgie ins Spiel: als vielfältige Alternative zur Gegenwart. Längst existiert diese naive Ostalgie der 1990er und 2000er Jahre nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form; dennoch bleibt sie bestehen – nun jedoch fast durchweg als Erinnerungsort, der vielen wie eine Alternative hinter einer Milchglasscheibe erscheint. Für manche verbirgt diese Milchglasscheibe die historische Realität; deshalb tragen sie Schicht um Schicht von durchsichtigem Klebeband auf – dadurch wird die Milchglasscheibe nämlich selbst durchsichtig und ermöglicht den Blick auf das, was sie verbergen sollte.”