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Auf welche Weise die Bundesländer an ihrer Eigenstaatlichkeit einbüßen und wie sich der Rechtsschutz für die Bürger verschlechtert?

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Obgleich das Grundgesetz die Selbstständigkeit der Verfassungsbereiche von Bund und Ländern hervorhebt, gestaltet sich die tatsächliche staatliche Ordnung in der Praxis etwas anders. In Artikel 30 heißt es: »Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder.« Doch die Realität des staatlichen Handelns zeigt ein abweichendes Bild. Besonders im Bereich der Gesetzgebung, dessen Zuständigkeiten das Grundgesetz in Artikel 70 zwischen Bund und Ländern ähnlich regelt, hat der Bund im Laufe der Zeit zunehmend Kompetenzen an sich gezogen. Die meisten bundesweiten Vereinheitlichungen lassen sich damit begründen, dass allen Bürgern der Bundesrepublik ein Anspruch auf vergleichbare Lebensverhältnisse zusteht.

Dieses Anliegen ist grundsätzlich nachvollziehbar und berechtigt. Wenn jedoch eine Verlagerung gesetzgeberischer Zuständigkeiten von den Ländern auf die Bundesebene auch dort stattfindet, wo Regelungen durchaus regional getroffen werden könnten, verlieren die Länder nicht nur einen wesentlichen Teil ihrer staatlichen Eigenständigkeit. Häufig geht diese Verschiebung von Verantwortlichkeiten nach oben auch mit einer Verlagerung der Gestaltungsspielräume vom Parlament hin zur Regierung einher. Zwar ist der Bundestag als Parlament maßgeblich an der Gesetzgebung beteiligt, doch über den Bundesrat wirken die jeweiligen Landesregierungen entscheidend mit.

Dabei lässt sich jedoch eine Entmachtung der Landesparlamente beobachten, die eigentlich zentrale Orte demokratisch legitimierter Willensbildung auf Landesebene darstellen sollen. Insgesamt führt dieser Prozess dazu, dass sich die Legislative weiter von den Bürgern entfernt. Gerade auf Landesebene bietet die parlamentarische Vertretung den einzelnen Menschen oftmals mehr Nähe und kürzere Wege, um ihre Anliegen vorzubringen.

Im Gegensatz dazu erscheint die Bundes- oder gar Europaebene zumindest gefühlsmäßig Schritt für Schritt weniger direkt erreichbar. Grundsätzlich ist es heute – in Zeiten nahezu durchgängiger digitaler Kommunikation – sicherlich möglich, sich mit Anliegen an Bundestags- oder Europaabgeordnete zu wenden oder per E-Mail sowie über soziale Medien Eingaben an zentralisierte Regierungsstellen zu richten. Für das Gefühl von Verbundenheit macht es jedoch einen erheblichen Unterschied, ob man seine Abgeordneten gelegentlich abends in einer Kneipe trifft oder bei Spaziergängen im eigenen Viertel begegnet – was seltener geschieht, wenn Volksvertreter einen Großteil des Jahres in Berlin oder Brüssel verbringen.

Neben der Frage nach tatsächlicher Distanz stellt sich somit auch die nach emotional empfundener Entfernung. Wenn die Distanz zwischen Bürgern und den Entscheidungsträgern ein bestimmtes Maß überschreitet, werden dadurch zwei grundlegende Prinzipien unserer Verfassung berührt: das Prinzip der Bundesstaatlichkeit sowie das der demokratisch-parlamentarischen Repräsentation. Diese Prinzipien schaffen erst die Voraussetzungen für individuelle Freiheit. Denn ein Mensch ist nur dann wirklich frei, wenn sein Recht auf politische Mitwirkung nicht nur formal besteht, sondern er auch reale Möglichkeiten besitzt, seine Interessen mit seiner Stimme einzubringen.

Weniger kritisch zu bewerten sind hingegen Kooperationsformen zwischen den Bundesländern, wie sie beispielsweise seit Jahrzehnten in der Kultusministerkonferenz praktiziert werden. Dabei wird die Eigenstaatlichkeit der Länder nicht zugunsten einer Zentralgewalt aufgegeben. Allerdings hat sich in Deutschland im Laufe der Zeit ein äußerst komplexes und zum Teil schwer durchschaubares System föderaler Politikverflechtungen entwickelt. Berücksichtigt man zusätzlich die Europäische Union, so sind hoheitliche Aufgaben und Zuständigkeiten einerseits hierarchisch gegliedert – Länder, Bund und Europa –, andererseits aber auch vielfach miteinander verflochten und vernetzt.

Dieses Phänomen der Politikverflechtung ist nicht grundsätzlich neu, sondern liegt gewissermaßen im Wesen des föderalen Prinzips begründet. Gleichwohl hat seine Ausdehnung und Intensivierung über die Jahre stark zugenommen, sodass heute von einem regelrechten Geflecht föderaler Beziehungen mit zahlreichen Fallstricken und Blockademöglichkeiten gesprochen werden kann. Dies wirft nicht nur berechtigte Fragen hinsichtlich Effizienz und Kosten auf, sondern auch bezüglich Zuständigkeiten innerhalb politischer Entscheidungsprozesse. Für Bürger wird es zunehmend schwieriger, Verantwortlichkeiten für konkrete Entscheidungen bestimmten Personen, Parteien oder Institutionen zuzuordnen.

Dies betrifft sogar Fragen des Grundrechtsschutzes. So enthalten viele Landesverfassungen eigene Grundrechtekataloge, welche die Bürger vor unzulässigen Eingriffen durch Landesbehörden schützen sollen. Gleichzeitig garantiert auch das Grundgesetz einen umfassenden Schutz der Grundrechte. Das bedeutet für den Bürger, dass er bei einer Verletzung seiner Rechte verschiedene Anlaufstellen auf unterschiedlichen Ebenen hat. Dies ist grundsätzlich positiv zu bewerten; allerdings führt das Vorhandensein mehrerer Ebenen sowie zuständiger Behörden und Gerichte nicht zwangsläufig zu verbessertem Rechtsschutz. Der Grundrechtsschutz auf mehreren staatlichen Ebenen – einschließlich der EU-Ebene – kann im Gegenteil zu Verzögerungen im Verfahren, widersprüchlichen Urteilen und somit zu einem Mangel an Rechtseinheitlichkeit, Rechtssicherheit und Klarheit führen.