Soziale Kälte: Wenn jeder sich selbst der nächste ist

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Die soziale Kälte legt sich allumfassend, wie ein Vorhang über die Gesellschaft. Anderen Menschen ehrenamtlich zu helfen oder Missstände offen anzusprechen, kann mitunter sogar die eigene soziale Existenz kosten.

„Die gingen einfach vorbei. Keiner blieb stehen, es war wirklich erschütternd“

>>Der Westem<<

„Am frühen Freitagmorgen geht Anja Ar (41) wie jeden Tag zur S-Bahn Station in Frohnhausen. Sie ist gerade auf dem Weg zur Arbeit, als ihr in Richtung des Eingangs ein Mann auffällt. Er sitzt auf der Treppe. Zuerst denkt sie sich nichts dabei. Doch als sie direkt an ihm vorbei läuft sieht sie, dass ihm Spucke seitlich aus dem Mund läuft. Er wirkt weggetreten. „Dann habe ich sofort gemerkt: Da stimmt irgendetwas nicht,“ sagt sie im Gespräch mit DER WESTEN. Sie fragt ihn: „Brauchen Sie Hilfe?“ Der Mann reagiert nicht. Dann ruft Anja Ar die 112 an. Will Hilfe rufen. „Ich wusste ja nicht, was der Mann hat. Auch wenn es ein Obdachloser gewesen wäre, hätte man helfen müssen: Doch der Mann war vielleicht so um die 50 Jahre alt und sah aus, als wäre er auch auf dem Weg zur Arbeit gewesen,“ so die 41-Jährige. Dann kommt die Wartezeit. Neun für Anja endlose Minuten braucht der Rettungsdienst, bis er an der S-Bahn Station eintrifft. Josef Wassenhoven von der Essener Feuerwehr kann den Einsatz um 6:50 Uhr bestätigen. Anja wartet an der Seitenstraße auf den Rettungswagen, will ihn ranzuwinken. Den hilfsbedürftigen Mann hat sie dabei immer im Blick. Minutenlang laufen die Passanten die Rolltreppe hinauf und einfach an ihm vorbei. „Die gingen einfach vorbei. Keiner blieb stehen, es war wirklich erschütternd.“ Nur zwei Leute seien stehen geblieben und hätten sich nach dem Mann erkundigt, so die 41-Jährige. „Nur eine junge Frau und ein Mann, sonst niemand.“ Anja Ar komme ursprünglich aus einer Kleinstadt.“

Rohe Gewalt: „Er hat gedroht, mich zu schlagen und mich angeschrien“

>>Mitteldeutsche Zeitung<<

„Als der junge Mann armwedelnd auf die Straße rannte, hatte Ralf Satter Mitleid. Er trat auf die Bremse, damit der Mann noch in den Bus steigen konnte. „Er sah aus als bräuchte er Hilfe.“ Was der Busfahrer da noch nicht wusste: er hatte gerade seinem Entführer die Tür geöffnet. „Der kam rein und sagte, er will nach Las Vegas“, erzählt der Busfahrer heute. „Ich hielt das für einen Witz und habe nur gesagt, dass mir Las Vegas ein bisschen zu weit ist“. Sattler lachte, der Syrer nicht. „Er hat gedroht, mich zu schlagen und mich angeschrien“, so der Fahrer. Wieder und wieder brüllte der Entführer ihm entgegen, er solle losfahren, nach Las Vegas. Er meinte eine Diskothek in Neustadt. Sattler hatte Angst und fuhr los. „Er stand die ganze Zeit neben mir, hat auf die Straße geguckt und immer wieder gesagt, ich soll schneller fahren.“ Bei einer Sicherheitsbelehrung habe Sattler gelernt, dass man in solchen Situationen nicht den Helden spielen solle. Auch nicht für Gäste. In dem entführten Bus saßen vier junge Leute. „Sie waren mucksmäuschenstill, und das war richtig so“, sagt der Busfahrer rückblickend. Mit dem Linienbus raste er über rote Ampeln. „Es war pures Glück, dass uns keine Straßenbahn erwischt hat“. Währenddessen redete der 47-Jährige mit dem Entführer, von dem sich später herausstellte, dass er ein Messer dabei hatte. Der Syrer schlug wütend auf das Armaturenbrett, wenn der Bus bremsen musste. … Zu Beginn der Horror-Fahrt hatte er den Notknopf gedrückt. „Mir wurde gesagt, dass die Zentrale dann über das Mikrofon mithören kann, was im Bus passiert.“ So oft es ging sagte er deshalb laut die Straßen an, in die er einbog – in der Hoffnung, dass ein Kollege Hilfe schickt. Aber niemand hörte mit. Sattler vermutet, dass der Knopf abgeklemmt war. Nach zehn Minuten war die Fahrt vorbei. „Der hat sich bedankt als er ausstieg“, so der Hallenser über seinen Entführer. Die Polizei nahm den Fall auf, danach fuhr Sattler wieder an die Haltestelle, an der die Fahrt begann. Eine Runde machte er noch. Aber alles war plötzlich anders. „Ich konnte nur noch an die Entführung denken“, sagt Sattler. … Noch Tage später habe er sich nicht mehr auf den Verkehr sondern nur noch auf die Fahrgäste konzentrieren können. Er habe jeden gescannt: Ist der gefährlich, angetrunken oder aggressiv? Nach der Arbeit konnte er nicht mehr schlafen, seine Lebensgefährtin sagte, er sei seit dem Vorfall verschlossener geworden. Er wurde schließlich krankgeschrieben. „Als ich zurückkam, waren die Kollegen komisch drauf.“ Und weil er mehrfach angesprochen habe, dass der Notknopf nicht funktioniere, sei er geschnitten worden. Zwei Wochen nach der Entführung entschied der Omnibusbetrieb Saalekreis (OBS), sich von dem Fahrer zu trennen. Selbst die Leihfirma, über die Sattler angestellt war, kündigte ihm. OBS versichert, das alles habe nichts mit der Entführung zu tun. Auf die Frage nach dem defekten Sicherheitsknopf, verweist OBS auf die Havag, die Auftraggeber des OBS ist. Es sei die Aufgabe des städtischen Unternehmens, für Sicherheitstechnik zu sorgen. Falsch – sagt wiederum die Havag. Sie sei allein für die Technik zuständig, die den Fahrgast betrifft – etwa den Kartenentwerter oder den Ticketautomaten. Laut Havag habe die Leitstelle die Entführung mitbekommen. Welche Maßnahmen ergriffen wurden, bleibt jedoch unbeantwortet.“

„Ich konnte nur noch an die Entführung denken“ – Arbeitsunfähig und Allein gelassen

Defizite beim Unternehmen offen anzusprechen kann den eignen Beruf kosten oder den Kollegen hilfreich zur Seite zu stehen, ist mindestens genauso gefährlich. Arbeitnehmer stellen heutzutage nur eine beliebig austauschbaren Masse da, schlecht bezahlt und ein sozialer Schutz kaum vorhanden. Die Folge: Eine sich zunehmend ausbreitende soziale Kälte.