Vogelfrei – “Nach dieser Theorie dürfen sie gefoltert oder getötet werden, wenn sie unsere Gesellschaft zerstören wollen”

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Vogelfrei: Jeder durfte ihn ungestaft töten und seinen Besitz einfach legal wegnehmen. In vielen Kulturen gab es ein Konzept, das als “Vogelfrei” bekannt ist. Dieses Konzept besagt, dass eine Person, die aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurde, nun keinen rechtlichen Schutz mehr genießt. Scheinbar ist es ein völlig antiquiertes und überkommenes Gedankengut? Gewisse Staatsrechtler sehen es anders und es sind Bestrebungen erkennbar: Es erneute unter anderen Vorzeichen einzuführen.

“Zog er den Zorn der Götter auf sich und galt damit als vogelfrei: Jeder durfte ihn töten”

>>Rom: Aufstieg einer antiken Weltmacht von Dietmar Pieper & Johannes Saltzwedel (Buch) <<

“Wenn es darum geht, eine Todesstrafe zu vollstrecken, erweist sich die Menschheit seit je als einfallsreich. Am 6. Juli 1647 verurteilte das Gericht von Hildesheim einen Sünder dazu, lebendig eingegraben zu werden, bis nur noch der Kopf herausschaute – um ihm diesen dann mit »vier unbändigen und ungehaltenen Pferden« abzupflügen. Sein Vergehen: Er hatte einen Grenzstein versetzt. Der Ort der Hinrichtung: das Loch, in dem zuvor der Stein gestanden hatte. Ein Grenzstein, das war eben nicht nur ein gewöhnlicher Felsbrocken. Er markierte eine Linie, die man nicht antasten durfte. Mit ihrem rabiaten Urteil griffen die Hildesheimer zurück auf Gepflogenheiten aus einer Zeit, als Rom noch von Königen regiert wurde. Versetzte ein Bauer mutwillig einen Grenzstein, dann zog er den Zorn der Götter auf sich und galt damit als vogelfrei: Jeder durfte ihn töten.”

“Gericht von Hildesheim einen Sünder dazu, lebendig eingegraben zu werden, bis nur noch der Kopf herausschaute”

Die rechtlichen Hintergründe reichen sogar noch viel weiter zurück: Nicht nur die Römer, sondern sie haben die ursprüngliche Praxis beim noch älteren Etruskern quasi abgeguckt. – Wobei hierbei weniger rechtliche Fragestellungen, sondern mehr ihr gelebter Götterkult im Vordergrund stand. Das Wort “Vogelfrei” wurde hingegen erst viel später erfunden.

“Wort »vogelfrei«, seit dem 16. Jahrhundert in Gebrauch” – “Ein Vogel gehört demjenigen, der ihn fängt”

>>Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren Paperback von Ilija Trojanow (Buch) <<

“Das deutsche Wort »vogelfrei«, seit dem 16. Jahrhundert in Gebrauch, deutet es semantisch an: ein Vogel gehört demjenigen, der ihn fängt. Er darf ihn rupfen oder essen, halten oder freisetzen. Manchmal galt der Gesetzlose rechtlich als verstorben, seine Frau als Witwe, seine Kinder als Waisen, mit entsprechenden Folgen für das Hab und Gut der Familie. Die Zerstörung oder Konfiszierung seines Eigentums waren die logischen Folgen dieses »rechtlichen Todes«, … “

“Vogelfrei” – “Zerstörung oder Konfiszierung seines Eigentums waren die logischen Folgen”

Im Laufe der Zeit wurde das Prinzip der “Vogelfreiheit” immer mehr erweitert. Im Laufe der Zeit konnten nicht nur Einzelpersonen, sondern ganze Städte – samt ihren Einwohnern – pauschal für Vogelfrei erklärt werden. Wenngleich hierfür ein anderer Rechtsausdruck verwendet wurde.

“Reichsacht” – “Einwohner, aber auch die ganze Stadt verlieren ihre Rechtsfähigkeit”

>>Die Deutsche Hanse – Eine heimliche Supermacht von Gisela Graichen & Rolf Hammel-Kiesow (Buch) <<

“König Sigismund verhängt die Reichsacht über Wismar und seine Bürger. Das heißt, die Einwohner, aber auch die ganze Stadt verlieren ihre Rechtsfähigkeit, werden rechtlos gestellt und gelten als vogelfrei – eine höchst gefährliche Situation, denn jeder kann die geächtete Person töten, die Stadt überfallen, sich des Eigentums bemächtigen, ohne dass dem Geächteten von Rechts wegen irgendeine Hilfe zuteil wird. Erst 1430 halten die Aufrührer dem Druck nicht mehr stand. Die königliche Gewalt setzt die Rückkehr des «Alten Rates» durch.”

“Reichsacht” – “Geächtete Person töten, die Stadt überfallen, sich des Eigentums bemächtigen” 

Dieses Konzept hat sich im Laufe der Zeit unterschiedlich entwickelt und in verschiedenen Ländern unterschiedlich angewandt. In den meisten Kulturen war die Straffreiheit beim Töten eines Vogelfreien jedoch Teil des Konzepts. Neben dem Töten des Vogelfreien gab es noch andere Formen der Bestrafung. Dazu gehörte die Beschlagnahme von Besitz oder Eigentum und die Isolation des Betroffenen von der Gesellschaft. Im Allgemeinen hat sich hierbei wenig verändert, was ein kurzer Blick in die antike-römische Geschichte zeigt.

“Jagte man den Verurteilten in die Wälder, wo er als vogelfrei galt und von jedermann ohne Buße (Wergeld) erschlagen werden”

>>Als die römischen Adler sanken: Arminius, Marbod und die Legionen des Varus von Walter Böckmann (Buch) <<

“So gab es auch nur im Krieg Strafen wie Fesselung, Schläge mit Ruten oder die Todesstrafe. Letztere wurde – wie im Frieden – von der Volksversammlung nur dann verhängt, wenn das Ansehen einer Gottheit auf dem Spiel stand. Ansonsten wurden einem Freien im Frieden nur Geldbußen oder Friedlosigkeit auferlegt. Bei Letzterer jagte man den Verurteilten in die Wälder, wo er als vogelfrei galt und von jedermann ohne Buße (Wergeld) erschlagen werden durfte.”

“Im Krieg Strafen wie Fesselung, Schläge mit Ruten oder die Todesstrafe”

Diese Person konnte von jedem getötet werden, ohne jegliche rechtliche Konsequenzen. Obwohl dieses Konzept heute so nicht mehr praktiziert wird, bietet es uns einen interessanten Blick auf die Art und Weise, wie Menschen früher mit “rechtlicher Ausgrenzung” umgegangen sind. Auch in der jüngeren Geschichte ist noch ein durchaus vergleichbare Praxis bekannt.

“Wohnungen ehemaliger DDR-Bürger werden umgehend neu vergeben” – “Scheinbar «soziale Maßnahme» war gut geeignet, Öl ins Feuer zu gießen”

>>Lebt wohl, Genossen! Der Untergang des sowjetischen Imperiums von György Dalos (Buch) <<

“Die Fluchtbewegung verpasste der ohnehin schwachen Infrastruktur der DDR einen empfindlichen Schlag. Plötzlich fehlten allerorten Ärzte, Krankenschwestern, Kellner und Facharbeiter. Diese Tatsache bewog Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, zu der Einsicht, dass man nach den konkreten Ursachen für den Exodus suchen müsse. Auf einer streng vertraulichen Dienstbesprechung der Bezirksleiter seiner Firma sagte er:

«Ein großer Teil derer, die jetzt weggehen, sind große Drecksäcke. Das ist wirklich so. Ich übertreibe vielleicht etwas damit. Aber trotzdem ist das ein Unterschied. Die Anzahl, die da weggeht, das ist empfindlich. Auch wenn es so miese Säcke sind, die da weggehen, bleibt die Tatsache, dass Arbeitskräfte weggehen.»

Weniger einsichtsvoll zeigten sich die offiziellen Stimmen, wie jene von Wolfgang Meyer, Pressesprecher im Außenministerium, dessen Erklärung am 2. Oktober die Öffentlichkeit erreichte:

«Die Regierung der DDR ließ sich davon leiten, dass jene Menschen bei Rückkehr in die DDR, selbst wenn das möglich gewesen wäre, keinen Platz mehr im gesellschaftlichen Prozess gefunden hätten. Sie haben sich selbst von ihren Arbeitsplätzen und von den Menschen getrennt, mit denen sie bisher zusammen lebten und arbeiteten. (…) … Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.»

Um die Haltung von Vater Staat gegenüber seinen verstoßenen Kindern zu verdeutlichen, erschien gleichzeitig eine in Petit gesetzte Nachricht:

«Wohnungen ehemaliger DDR-Bürger werden umgehend neu vergeben. Den örtlichen Organen wird anheimgestellt, frei gewordene Wohnungen umgehend an neue Mieter, die daran Interesse haben, zu übergeben.» Diese scheinbar «soziale Maßnahme» war gut geeignet, Öl ins Feuer zu gießen.”

“Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt”

“Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt” – Die rechtliche Terminologie aus der Antike wurde einfach beibehalten. Es zeigt uns auch, was es bedeutet, als rechtloser Mensch zu gelten und welche Folgen dies für seine Mitmenschen hatte. Ist es alles nur ein abgeschlossenes Kapitel der Rechtsgeschichte? Im Gegenteil die Reaktivierung des Prinzips der Vogelfreiheit wird einigen übereifrigen Juristen – unter neuen Namen – emsig vorangetrieben.

“Rechtswissenschaftler Günther Jakobs unterschied in einem Aufsatz 1985 zum ersten Mal zwischen Feindstrafrecht und Bürgerstrafrecht”

>>Die Würde ist antastbar von Ferdinand von Schirach (Buch) <<

“Der Rechtswissenschaftler Günther Jakobs unterschied in einem Aufsatz 1985 zum ersten Mal zwischen Feindstrafrecht und Bürgerstrafrecht. Er berief sich dabei auf die Vertragstheorie von Thomas Hobbes: Ein Mensch, der die Gesellschaft verlasse, begebe sich in einen gesetzlosen Naturzustand und werde zum Feind. Und als Feind müsse er bekämpft werden. Terroristen, die den Staat und die Verfassung selbst angreifen, sind danach vogelfrei, sie werden zu Rechtlosen. Nach dieser Theorie dürfen sie gefoltert oder getötet werden, wenn sie unsere Gesellschaft zerstören wollen – ein Lager wie in Guantanamo wäre auch in Deutschland legal. Das ist nicht bloß eine abstrakte Diskussion – sie wird erbittert geführt, und es gibt ernsthafte Leute, die einem solchen Feindstrafrecht zugeneigt sind.”

“Gefoltert oder getötet” – “Terroristen, die den Staat und die Verfassung selbst angreifen, sind danach vogelfrei, sie werden zu Rechtlosen”

Allerdings wird diese Terminologie nicht nur auf Terroristen, sondern all mögliche Gruppen angewandt. Unter der schwammigen ÜberschriftVerfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates” werden alle möglichen Personen oder Gruppen mittlerweile zusammengeführt.

“Vertrauen in das staatliche System zu erschüttern und dessen Funktionsfähigkeit zu beeinträchtigen”

>>Bundesamt für Verfassungsschutz<<

“Das BfV hat daher den Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ eingerichtet. Die diesem Phänomenbereich zugeordneten Akteure zielen darauf ab, das Vertrauen in das staatliche System zu erschüttern und dessen Funktionsfähigkeit zu beeinträchtigen.”

“Nach dieser Theorie dürfen sie gefoltert oder getötet werden, wenn sie unsere Gesellschaft zerstören wollen”

An dieser Stelle sollte nochmal an die darunterliegenden Theorien erinnert werden: “Nach dieser Theorie dürfen sie gefoltert oder getötet werden, wenn sie unsere Gesellschaft zerstören wollen – ein Lager wie in Guantanamo wäre auch in Deutschland legal.” Es ist hierbei zu beachten, dass dies nicht ohne Folgen für die Betroffenen bleibt und dass sie weiterhin bestraft werden können – obwohl heutzutage völlig andere Methoden im Einsatz sind als früher. Das Spektrum reicht von Mietvertrag, über gesperrte Bankkonten bis hin zum rechtlichen Gehör, wo die rechtlichen Argumente des betroffenen offenkundig kaum mehr eine Rolle spielen. Der letzte Schritt zur völligen Vogelfreiheit ist damit nicht mehr allzu fern.