Perspektiven eines Chirurgen: Wer wird in der Zukunft meine Operation durchführen?

„Ich liebe meinen Beruf, doch unter den aktuellen Rahmenbedingungen möchte ich ihn nicht länger ausüben“ – dieser Satz fällt so oder ähnlich in der Pflege seit vielen Jahrzehnten immer wieder. Er ist Ausdruck eines Abschieds von Kollegen, die sich nach anderen Möglichkeiten umsehen, lieber ein Studium beginnen, Fitnesstrainer werden oder eine Tätigkeit im Büro anstreben. Die eigentlich naheliegende Konsequenz daraus sollte sein: Man muss die Arbeitsbedingungen verbessern. So klingt es zumindest für mich logisch und vernünftig. Stattdessen passiert jedoch Folgendes: Man rekrutiert Pflegekräfte aus dem Ausland. Anstatt die Situation für diejenigen zu verbessern, die ihren Beruf lieben und gerne ausüben würden, werden Anlern- und Integrationsprogramme für Menschen aus Ländern wie China, Mexiko oder den Philippinen gestartet. Mit der stillen Annahme, dass diese Personen solche Bedingungen eher akzeptieren können und besser durchhalten.
Ich empfinde das als zynisch – und das ist noch eine Untertreibung. Ich halte es für falsch – und ich bin überzeugt, dass uns das langfristig nicht wirklich weiterbringt. Es ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein, der schnell verdunstet. Zudem verlassen trotz aller Bemühungen jährlich mehr Krankenpflegekräfte Deutschland als aus dem Ausland hinzukommen. Deutsche Pflegekräfte wandern seit langem in großer Zahl ab – vor allem in die Schweiz und skandinavische Länder, wo das Gesundheitssystem anders organisiert ist, die Arbeitsbedingungen für Pflegepersonal deutlich besser sind und meist auch das Gehalt attraktiver ausfällt.
Das Problem der Ausbildung betrifft übrigens nicht nur die Krankenpflege, sondern auch den ärztlichen Bereich. Ich selbst bin Chirurg, und sollte mir einmal etwas zustoßen, benötige ich möglicherweise einen Arzt. Wer wird mich dann operieren? Was wird er können? Reicht das aus? Diese Fragen beschäftigen mich seit einigen Jahren, seitdem der Wandel in der ärztlichen Tätigkeit deutlich spürbar ist. Sechs Jahre Facharztweiterbildung, zehn Jahre als leitender Oberarzt – über 16 Jahre habe ich miterlebt, wie sich der Beruf und seine Rahmenbedingungen verändern.
Früher gab es mehr Kontinuität. Es war üblich, dass ein Arzt nahezu vollständig für eine Station und deren Patienten verantwortlich war. Man war vor Ort – oft sicher viel zu lange –, was zwar anstrengend war, aber den Patienten zugutekam. Denn so konnte der Arzt Veränderungen erkennen – sowohl positive als auch negative. Ist ein Patient blass, weil er klinisch abbaut und Hilfe benötigt, oder ist er einfach nur so? Solche feinen Unterschiede bemerkt man nur bei einer engen und langfristigen Betreuung. Man kennt seine Patienten und fühlt sich ihnen verpflichtet.
Heute hingegen ist die Position eines Arztes auf der Station häufig nur ein Durchgangsstation. Mal arbeitet er vier Stunden dort, mal acht; maximal sind es 24 Stunden am Stück. Eine Woche Verantwortung für einen Patienten zu tragen ist mittlerweile eher selten geworden. Oft muss nach wenigen Stunden auf Station schon die Notaufnahme übernommen werden oder es geht in den OP zum Assistieren. Mit etwas Glück kann er auch mal selbst operieren oder sich acht Stunden um seine Station kümmern – mehr ist meist nicht drin, was ein Problem darstellt.
Das Arbeitszeitgesetz erlaubt einem Arzt maximal 24 Stunden am Stück in der Klinik zu bleiben; danach muss er nach Hause gehen. Das ist grundsätzlich sinnvoll: Jeder Patient hat Anspruch auf einen ausgeruhten Arzt. Niemand möchte von jemandem operiert werden, der bereits 24 Stunden ohne ausreichenden Schlaf gearbeitet hat oder Bereitschaftsdienst hatte. Dieses Gesetz wurde genau dafür geschaffen. Doch es bringt einen erheblichen Nachteil mit sich: Der Patient sieht jeden Tag einen anderen Arzt. Zwar trifft er einen ausgeruhten Mediziner an, dafür aber ständig wechselnde Gesichter. Ein neu aufgetretenes Problem wird am ersten Tag vorgetragen, doch am nächsten Tag weiß der Arzt vielleicht nichts davon. Außerdem muss sich der „neue“ Arzt erst mit den Patienten vertraut machen.
Dadurch steigt die Gefahr, dass Patienten eher ‚verwaltet‘ als wirklich behandelt werden. Man ist ja nur für kurze Zeit zuständig; Probleme werden oft ausgesessen oder komplexe Arztbriefe verschoben – derjenige Kollege muss sie dann schreiben, der zufällig am Entlassungstag eingeteilt ist.
Mit etwas Glück hat der neue Arzt eine Übergabe erhalten oder es wurde sorgfältig in der Akte dokumentiert (leserlich? ausführlich?), oder dieselbe Pflegekraft wie am Vortag ist vor Ort und kennt die Situation. Was wurde mit dem Patienten besprochen? Abwarten? Diagnostik? Wann Entlassung? Wohin?
Ich weiß und verstehe, dass Arbeit nicht alles sein darf, aber der Begriff ‚Work-Life-Balance‘ nervt mich etwas. Als Arzt trägt man Verantwortung. Es ist gut, dass es ein Arbeitszeitgesetz gibt; dennoch kann man diesen Beruf nicht einfach ‚abschalten‘ wie andere Tätigkeiten. Der Arztberuf bedeutet ‚sich kümmern‘ – so sehe ich das zumindest. Aber dieses ‚sich kümmern‘ lohnt sich kaum für vier Stunden; acht Stunden sind gerade so akzeptabel; eine Woche wäre ideal – doch das gibt es kaum noch. Es ist heutzutage eine Seltenheit geworden, dass ein Arzt einen Patienten aufnimmt und auch den Entlassungsbrief nach einigen Tagen schreibt. Informationsverluste sind da vorprogrammiert.
Als ich meine Laufbahn begann, waren zwei bis drei Ärzte pro Station zuständig: meist ein erfahrener Kollege und ein Jüngerer mit einer Zuständigkeit von sechs Monaten pro Station. Der Jüngere lernte vom erfahrenen Kollegen – bekam Werkzeuge zur Problemlösung an die Hand gelegt. Wenn mal ein Arztbrief fehlte oder später Probleme auftauchten, konnte man schnell feststellen, wer zuständig war und entsprechend nachfragen. Heute ist es schwer nachvollziehbar, wer wann für welchen Patienten verantwortlich war; das Risiko von Informationsverlusten ist enorm – ein ernsthaftes Problem mit teilweise gefährlichen Folgen.
Das ‚Sich-Kümmern‘ als persönlicher Arzt des Patienten tritt unter den heutigen Bedingungen stark zurück; umso wichtiger wird die Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal. Bei gemeinsamen Visiten fallen Unstimmigkeiten eher auf. Je besser die Pflegekraft ausgebildet und je erfahrener sie ist, desto eher erkennt sie Risiken oder Probleme – selbstverständlich gilt dies auch für die Ärzte selbst.
Ein junger Assistenzarzt kann nach drei bis vier Monaten auf Station nicht allein gelassen werden: Er hat wenig Erfahrung, kein ausgeprägtes klinisches Auge und keine Routine. Gerade diese Berufsgruppe profitiert enorm von erfahrenen Pflegekräften! Ich selbst habe als junger Assistenzarzt unglaublich viel von den Schwestern gelernt – organisatorisch, fachlich und menschlich.
Heute fehlt dieses Lernen vielfach – auch beim ärztlichen Nachwuchs – auf allen Ebenen. Dabei meine ich nicht das Auswendiglernen medizinischer Fachbegriffe an der Universität, sondern das Lernen direkt am Patienten. Wertvolle Zeit geht verloren durch andere Aufgaben wie Dokumentation: Sie ist verpflichtend; nur was dokumentiert wurde gilt als erledigt (für Abrechnung und Nachvollziehbarkeit). Die Zeit für Dokumentation fehlt jedoch am Patienten: Weniger Zeit bleibt fürs genaue Hinsehen, klinische Erfahrung sammeln oder Untersuchungen durchführen – etwa Röntgenbilder beurteilen oder bei einer dementen Patientin genauer hinsehen: Vielleicht schreit sie ja wegen eines Schenkelhalsbruchs?
Erfahrung entwickelt man über Zeit durch Eigeninitiative, Literaturstudium sowie Anleitung durch andere Fachleute. Nur was man kennt, erkennt man auch wirklich: Eine Wunde schnell zuzunähen reicht nicht aus; es kommt darauf an wie genau man vorgeht: Liegt darunter eine Sehne? Ein Seitenzügel? Was war das nochmal? Wofür dient es? Näht man das mit? Mit welcher Fadenstärke? Was sagt man dem Patienten zur Nachbehandlung? Im Zweifel empfiehlt man fachärztliche Weiterbehandlung oder ruft den Oberarzt hinzu.
Das funktioniert einige Male gut; zu oft genervt er verständlicherweise irgendwann – dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass er einem bald wieder eine Operation überlässt. Im Zweifel macht er Eingriffe lieber selbst und beendet sie rechtzeitig; so lernt der Assistenzarzt nichts dazu.
Man wird kein guter Chirurg mit einer 36-Stunden-Woche; denn man kommt schlichtweg nicht dazu genug Operationen zu sehen oder selbst durchzuführen. Lernen geschieht durch Zuschauen und Mitmachen.
Ich kann das Bedürfnis nach ausreichend Freizeit teilweise nachvollziehen: Die Kollegen haben eine sehr hohe Arbeitsbelastung rund um die Uhr; deshalb verstehe ich auch ihren Unmut nach einem gewissen Pensum keine Lust mehr zu haben.
Für spannende Operationen bleibt immer weniger Zeit. An einer Universitätsklinik mag das anders sein: Dort kämpfen Assistenzärzte oft darum bei bestimmten Eingriffen assistieren zu dürfen; prinzipiell gibt es dort bessere Personalschlüssel. Doch in Kliniken mittlerer Größe fehlen viele Kollegen; Nachwuchsprobleme sind massiv; neue Mitarbeiter kommen kaum nach. Wer wird mich also einmal operieren? Diese Frage wird mich wohl noch lange begleiten.